Faust So sei auch sie durch keine Zeit gebunden! Hat doch Achill auf Pherä sie gefunden, Selbst außer aller Zeit. Welch seltnes Glück: Errungene Liebe gegen das Geschick! Und sollt’ ich nicht, sehnsüchtigster Gewalt, Ins Leben ziehn die einzigste Gestalt? Das ewige Wesen, Göttern ebenbürtig, So groß als zart, so hehr als liebenswürdig? Du sahst sie einst; heut hab’ ich sie gesehn, So schön wie reizend, wie ersehnt so schön. Nun ist mein Sinn, mein Wesen streng umfangen, Ich lebe nicht, kann ich sie nicht erlangen.
»Faust und Helena«: das Paar ist weniger bekannt als etwa »Faust und Gretchen« oder »Faust und Mephisto«. Die letztgenannten haben beide einen Ruch, das eine klingt nach Mord und Heiratsschwindel, das andere nach satanischen Verabredungen und übermenschlich kaltem Gebaren. Nur Helena, so scheint es, kann Goethe aus den Verstrickungen erlösen, die ihn seit seinem »Urfaust« 1775 umgeben; aber wiederum nicht jene Helena aus dem deutschen Volksbuch, die er als Junge in einem Puppenspiel erleben konnte. Hier kam ja zu allem Ruchlosen noch blendender Liebestrug dazu, Helena war ein böses Phantom, wenn auch sehr schön. Keine Frau ist in der deutschen Literatur der Frühen Neuzeit dermaßen hingerissen geschildert worden – und es war dieser Anblick, den Goethe schließlich in die Waagschale werfen konnte. Doch durfte diese rettende Gestalt nicht nur aus der Hexenküche stammen, sie musste in eigener Anstrengung gesucht und vor allem: gefunden werden.
Die Schlüsselszene aus Faust II erreichte die literarische Welt ab 1832 – Goethe hatte das Erscheinen dieses Werkes bekanntlich zu Lebzeiten verweigert. Erst rund vierzig Jahre später waren die Verse auf der Bühne zu hören, und auch danach blieben sie theatralisch eher verborgen und Teil einer Lesekultur. Dabei deklamierten sie mit atemloser Drastik einen Wunschtraum der deutschen Bildungseliten, genauer des philhellenischen Deutschland seit Winckelmann; eben jenes Johann Joachim Winckelmann, der als Heros einer national verzückten Ästhetik Deutschland und Hellas einander verlobt hatte, ganz altmodisch mit dem unausgesprochenen Verbot der Besitznahme. Bevor ein maßgeblicher deutscher Dichter den Fuß auf griechischen Boden setzen wollte, sollten fast 150 Jahre vergehen, denn man hielt sich keusch an das Gebot, bis hin zu Gerhart Hauptmann. Reisende Archäologen, Maler und Touristen gehörten natürlich so wenig dazu wie etwa Otto I., der als König aus Bayern einzog, oder der Schweizer Jacob Burckhardt, dem man die strengste Kulturgeschichte des alten Griechenland dankt. Doch Dichter und Denker von Hölderlin bis Nietzsche errichteten Paläste auf diesem Boden, die keine Realität duldeten.
Zahllose Darstellungen dieses Sachverhalts gibt es aus der historischen Fachwelt, und je weiter die Forschung, desto höher aufgelöst das Bild. Aber vielleicht muss es kein Bild sein, vielleicht leistet die Analogie, eine poetische Formel ohne ausufernde Metahistorie, den besseren Dienst? Der Pfad, auf dem die Idealisten zu jener fieberhaft begehrten Helena vordringen wollten, war der Traum vom klassischen Hellas als eigener Heimat, den Goethe dann mit so viel Leben wie möglich erfüllen wollte, nämlich mit einer Verkörperung des schönen Idols, einer Hochzeit und sogar einer Geburt.
Zwei mythische Riesen standen dem Dichter dabei zur Seite, Prometheus und Pygmalion, beide begnadet mit gottgleich menschenschaffendem Schöpfertum. In »Faust. Eine Tragödie«, wie Goethe sein Stück schließlich nannte, verzwergen sich beide zu einem Famulus namens Wagner, der im Labor – vulgo Hexenküche – einen Homunkulus erzeugt, der dann wiederum in Faust II. eine Helena aus dem ägäischen Meer heraus erzeugt. Aber als was? Als Trugbild oder als leibhafte Frau, die ihrerseits Mutter werden konnte? Schließlich verdankte sie sich in dem Stück ja ausdrücklich einem Gang »zu den Müttern«. Oder kam sie als erlöste Kriegsbeute nach zehn Jahren trojanischem Krieg in die Gefilde der Seligen, um dort mit Achill einen Sohn namens Euphorion zu gebären? Das besagt jedenfalls einer der vielen Sagenstränge um diese Helena, an denen sich Goethe entfalten musste.
Wie mächtig das Paar Faust und Helena in der Folgezeit wirkte, braucht man nicht zu betonen. Und doch blieb die Ideengeschichte unterbelichtet. Redlich darstellbar ist sie ja nur mit Blick auf die politische Geschichte; denn selten war eine poetische Erfindung so politisch motiviert wie diese Familie Faust, und selten ein politischer Akt so bildungsschwer vorbelastet wie der deutsche Einmarsch in Griechenland im April 1941, der gespenstischen Hochzeit. 200 Jahre erst glühender und auch unendlich befruchtender, dann aber allmählich erstickender Nähe zwischen den Ländern endeten auf diese brutale Weise; aber eigentlich erst seit der letzten Jahrtausendwende, je näher der Ausschluss des Landes aus der EU rückte, wurde diese sonderbare Kulturtragödie wirklich bewusst. Es ging ja anfangs niemals um zwei Länder, sondern zunächst immer um ein Land namens Deutschland (oder Preußen oder Bayern) und eine historische Fiktion namens Hellas; aber je mehr Griechenland aus Hellas wurde, desto grausamer die Nähe. Schon bald nach der Einsetzung des bayerischen Königs 1832 regte sich Widerstand im griechischen Volk, man zwang ihn schließlich zum Rücktritt, und die Berichte aus dem Land deutscher Sehnsucht färbten sich zunehmend düster. Der poetische Kalender dazu wirkt unheimlich: Goethes Hochzeitsdichtung, die »Klassisch-Romantische Phantasmagorie« erschien noch pünktlich zum griechischen Freiheitskampf, aber zur Thronbesteigung gab es dann auch schon den »verwitweten« Faust in Teil zwei, Faust ohne Helena, nur noch mit einem Mephisto. Und doch blieb und strahlte die Idee dieses Paares durch die folgenden Jahrhunderte wie eine Ikone; Goethe hatte die Träume seiner eigenen Generation offenbar szenisch gebändigt und entfesselt zugleich.
Eine der frühesten und eindringlichsten Darstellungen dieser ganzen Konstellation stammt von einer irischen Germanistin namens Eliza Marian Butler (1885–1959). Ihr Buch mit dem psychologisch gemeinten Titel »The Tyranny of Greece over Germany«, »Die Tyrannei Griechenlands über Deutschland«, erschien 1935, es war eine überaus kritische Geschichte deutscher Graekophilie von Johann Jakob Winckelmann bis zu Stefan George. Sie wurde geschrieben, als aller Welt sichtbar wurde, was der angeblich philhellenische Tyrann an der Spitze des deutschen Reiches plante. Zuerst mit der Übernahme der antiken Olympiade, dann auch mit pseudohellenistischer Propaganda auf allen Gebieten, einschließlich der Kriegskunst, die schließlich auf das Land der Träume selber angewandt wurde. Viel zu viele humanistisch gebildete Deutsche beteiligten sich damals, und auf die meisten traf der Begriff der »Zuarbeiter« zu, den Ian Kershaw für die maßlose Interaktion zwischen Führer und Geführten im sogenannten Dritten Reich geprägt hat. Den langen Familienroman dieser Zuarbeit noch vor ihren mörderischen Exzessen erkannt und dargestellt zu haben, war das Verdienst von Eliza, gen. »Elsie« Butler, auch wenn sie weder Gräzistin noch Archäologin war, sondern Germanistin, die sich mit Heinrich Heine, Fürst Pückler-Muskau, Rilke und immer wieder mit Goethe befasste: vor allem mit Goethes Faust.
Bis heute ist aber unklar, wie sie zu ihrem Griechenbuch überhaupt kam. In den englischen Archiven gibt es dazu nahezu keine Unterlagen, weshalb die Forschung nach Butlers Tod weitgehend erlosch. Übrig blieb nur das mehr oder minder einhellige Lob für ihr Projekt und die zahlreichen Anregungen, die es gab und bis heute gibt. Immerhin wurde das Buch 1958 als Paperback erneut ediert, und Butler schrieb ein Nachkriegsvorwort dazu. Zwar seien die deutschen Klassiker, meinte sie nun, mit all ihrem Humanismus niemals imstande gewesen, Katastrophen wie den Zweiten Weltkrieg zu entfesseln oder gar nur zu unterstützen; aber eine Neigung zu exzessiv träumerischem Denken, ohne Rücksicht auf die mitlebende Realität, sei ihnen doch allen gemeinsam.
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