»Bill!« flüsterte er, einmal, zweimal. »Bill!«
Er watete in das milchige Wasser hinein, als ob die ungeheure Öde ihn mit unwiderstehlicher Schwere weiterschob, während sie ihn mit grausamer, brutaler Freude zermalmte. Wie in einem Anfall von Schüttelfrost zitterte er, bis das Gewehr ihm aus der Hand und mit einem Plätschern ins Wasser fiel. Das brachte ihn wieder zu sich. Er bekämpfte seine Angst und nahm sich gewaltsam zusammen. Er bückte sich, suchte im Wasser, bis er sein Gewehr gefunden hatte, und hob es auf. Dann schob er sich das Bündel weiter auf die linke Schulter hinauf, als ob er dadurch dem rechten Fuß, den er sich verstaucht hatte, das Gewicht abnehmen wollte. Und langsam und vorsichtig näherte er sich, vor Schmerzen zuckend, dem anderen Ufer.
Hier blieb er nicht stehen. Mit einer verzweifelten Anstrengung, die an Wahnsinn grenzte, eilte er, ohne auf den Schmerz zu achten, den Hügel hinan, um den Gipfel zu erreichen, hinter dem sein Kamerad vorhin verschwunden war … noch grotesker und noch tragikomischer anzusehen, als sein humpelnder, springender Genosse es gewesen. Als er aber den Gipfel erreicht hatte, sah er vor sich nur ein flaches Tal, das von allem Leben entblößt war. Wieder bekämpfte er seine Angst, überwand sie, schob sich das Bündel noch weiter nach links hinüber und taumelte den Hang hinunter.
Die Sohle des Tales war feucht. Dichtes Moos klebte wie nasser Schwamm an den Fersen. Das Wasser quoll bei jedem Schritt, den er machte, unter seinen Füßen hervor. Und jedes Mal, wenn er den Fuß wieder hob, gab es ein glucksendes, saugendes Geräusch, wie wenn das Moos nur zögernd seinen Griff um den Mokassin aufgab. Er suchte sich vorsichtig die Stellen aus, wo er den Fuß hinsetzen konnte, und folgte dabei nach Möglichkeit der Fährte seines Kameraden zwischen den Felsblöcken, die sich wie kleine Inseln aus dem Meere von Moos erhoben.
Obgleich allein, war er doch nicht verloren. Er wusste, dass er ein Stück weiter eine Stelle erreichen musste, wo abgestorbene Tannen und Kiefern verwachsen und verdorrt das Ufer eines kleinen Sees umsäumten, der in der Sprache der Eingeborenen Titchinniechilie hieß. Das Land selbst wurde das »Land der kleinen Zweige« genannt. Und durch diesen See strömte ein kleiner Fluss, dessen Wasser nicht milchig war. An diesem Fluss wuchs auch Schilf, dessen entsann er sich noch, aber Wald war nicht da. Diesem Fluss wollte er bis zur ersten Wasserscheide folgen. Die wollte er dann überschreiten, bis er den nächsten Fluss traf, der nach Westen floss, und der ihn bis zu dem größeren Dease-Fluss führen musste. Hier würde er unter einem umgekippten Kanu und mit vielen großen Steinen bedeckt ihr Depot finden. In diesem Depot befanden sich Munition für sein leeres Gewehr, Angelhaken und -leinen, ja sogar ein kleines Netz – kurz, alles Gerät, das zum Fangen und Töten der verschiedenen Tiere notwendig war. Dort würde er auch Mehl – freilich nicht sehr viel –, ein Stück Räucherspeck und einige Bohnen finden.
Wahrscheinlich wartete auch Bill dort auf ihn. Sie konnten dann gemeinsam den Dease bis zum Großen Bärensee hinunterpaddeln. Den überquerten sie dann in südlicher Richtung, immer weiter nach Süden, bis sie den Mackenzie erreichten. Und weiter, immer weiter nach Süden würden sie ziehen. Während der Winter ihnen vergeblich nachlief und die Eiskruste selbst die Strudel erstarren ließ und die Tage kalt und klingend klar machte, würden sie selbst immer weiter nach Süden wandern, bis sie eine behagliche Station der Hudson-Bay-Company erreichten, wo der Wald hoch und reich wuchs und wo es Lebensmittel ohne Ende gab.
Solche Gedanken schössen durch den Kopf des Mannes, der sich langsam und mühselig vorwärts kämpfte. Aber wenn er auch große Anforderungen an seinen Körper stellte, so war doch der Kampf, den er mit seiner Seele führte, nicht weniger hart. Vergebens versuchte er sich vorzutäuschen, dass Bill ihn gar nicht verlassen hätte, dass Bill sicher beim Depot auf ihn warten würde. Er war gezwungen, aus allen Kräften an diesem Glauben festzuhalten, denn sonst wäre er gar nicht imstande gewesen weiterzuschreiten; er hätte sich einfach hingelegt und wäre gestorben. Und als der düster glimmende Sonnenball langsam hinter dem nordwestlichen Hügelrand verschwunden war, ging er in Gedanken, immer wieder, jeden Zoll durch, den Bill und er südwärts ziehen mussten, um dem kommenden Winter zu entfliehen. Und ein Mal über das andere stellte er sich die Lebensmittel im Depot und die, welche er bei der Hudson-Bay-Station erhalten würde, vor Augen. Seit zwei Tagen hatte er nichts zu essen bekommen, und schon seit langem hatte er nicht gegessen, was er zu essen wünschte. Manchmal blieb er stehen und pflückte die blassen Moosbeeren, steckte sie in den Mund, kaute und verschlang sie. Eine Moosbeere besteht aber nur aus einem kleinen, von etwas Flüssigkeit umgebenen Samen. Im Munde verschwindet die Flüssigkeit, und der Samen, der übrigbleibt, schmeckt bitter und scharf. Der Mann wusste genau, dass die Beere keinen Nährwert hat, aber er kaute sie trotzdem geduldig mit einer Hoffnungsfreudigkeit, die größer als alles Wissen war und sich den Teufel um alle praktischen Erfahrungen scherte.
Gegen neun Uhr stieß er sich den Zeh an einem Stein, und vor lauter Müdigkeit und Schwäche stolperte er und stürzte. Er lag einige Zeit auf dem feuchten Boden, ohne die Kraft zu haben, wieder aufzustehen. Dann gelang es ihm, die Gepäckriemen abzustreifen, und mühselig und schwerfällig setzte er sich auf. Es war noch nicht ganz dunkel geworden, und in der zögernden Dämmerung suchte er mit den Händen auf dem Boden, um etwas Moos zu finden, das trocken genug war. Als er einen kleinen Haufen zusammengeschabt hatte, machte er ein Feuer – ein schwach glimmendes, rauchendes Feuer und stellte den Zinntopf auf, um Wasser zu kochen.
Er öffnete sein Bündel, und das erste, was er dann tat, war, dass er seine Streichhölzer zählte. Es waren im ganzen siebenundsechzig. Er zählte sie dreimal, um seiner Sache sicher zu sein. Dann teilte er sie in drei Häufchen und packte jedes für sich in Ölpapier ein. Das erste Häufchen tat er hierauf in seinen leeren Tabaksbeutel, das zweite in das Schweißleder seines arg mitgenommenen Hutes, während er das dritte auf der Brust unter dem Hemd verbarg. Als das getan war, überkam ihn plötzlich ein panischer Schrecken, er packte sie alle wieder aus und zählte sie noch einmal. Es waren immer noch siebenundsechzig.
Er trocknete seine Fußbekleidung am Feuer. Die Mokassins waren zu durchnässten Fetzen geworden. Die Überzugstrümpfe waren durchlöchert, seine Füße zerschunden und blutig. In seinem Fußgelenk hämmerte es, und er untersuchte es deshalb. Es war so stark angeschwollen, dass es ebenso dick wie das Knie war. Er riss einen langen Streifen von einer seiner beiden Decken und band ihn straff um das Fußgelenk. Er riss weitere Streifen ab und band sie um seine Füße, damit sie ihm gleichzeitig als Strümpfe und als Mokassins dienen konnten. Dann trank er den ganzen Topf heißes Wasser aus, zog seine Uhr auf und kroch in seinen Schlafsack.
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