Die Überforderung durch extrem schwierige gesamtgesellschaftliche Probleme (z. B. Finanzkrisen, Klimawandel, Flüchtlingsintegration, Pandemien) eignet sich als ein weiteres Illustrationsbeispiel. Der Schwierigkeitsgrad äußert sich komplexitätsseitig meist in einer Instabilität: So kommt es beispielsweise zu häufigen Neuwahlen, bei denen die nicht erfolgreiche Regierung abgewählt wird, weil sie beim Meistern der Probleme versagt hat. Das Modell der Achtsamkeit (Gärtner 2013) unterstützt die Handhabung schwieriger Aufgaben durch die Fokussierung auf Kernprobleme. Spiegelbildlich vermindert etwa der Bedienkomfort (z. B. Einhandregler, Einhebelmischer) die Schwierigkeit aufgrund von verminderter Komplexität. Analog lässt sich eine implizite Einfachheit auch in Konzepten wie Convenience, Gebrauchstauglichkeit oder Komfortzone nachweisen.
Ein erheblicher impliziter Komplexitätsanteil kennzeichnet die Modelle der Aufgabenkomplexität und Spielkomplexität (Hærem/ Pentland/ Miller 2015), vor allem in Gestalt der Komponentenkomplexität und dynamischen Komplexität sowie des Complex Problem Solving (Dörner/ Funke 2017, S. 6). Ganz analog unterscheiden sich das Single Loop-Lernen, Double Loop-Lernen und Triple Loop-Lernen nicht nur durch unterschiedliche Lerninhalte (also Aktivitäten, Regeln und Lernmethoden), sondern auch durch die Diversität der Lernmodalitäten (
Kap. 2.8.2
).
Auch der Übergang von Extremalzielen auf Satisfizierungsziele (z. B. angemessener Gewinn statt maximaler Gewinn) macht die Zielerreichung leichter und mitunter auch einfacher. Ähnlich sind Folgerstrategien (etwa von Generika-Anbietern) im Vergleich zu Führerstrategien leichter umsetzbar, weil sie mit einem geringeren Investitionsvolumen einhergehen und implizit auch einfacher angelegt sein können. Unfertige Produkte (z. B. Bausätze für Regale, Beta-Versionen) und Dienste (z. B. Lieferung an Abholstationen oder frei Bordsteinkante) sind hingegen für Abnehmer insofern schwierig, als sie zur finalen Fertigstellung bzw. Logistik nicht ohne Ressourcen des Abnehmers auskommen.
Schließlich kann man Gemeinsamkeiten und Unterschied zwischen materialer Leichtigkeit und formaler Einfachheit auch anschaulich anhand des Konzepts der »einfachen Sprache« illustrieren, die mitunter auch als »leichte« Sprache bezeichnet wird. Die Aspekte der Einfachheit setzen sich zusammen aus geringer Vielzahl (Anzahl der Wörter im Wortschatz, Anzahl der Wörter in einem Satz: kurze Sätze), geringer Vielfalt (keine Fremdwörter, keine Fachwörter), Vermeidung von Vieldeutigkeit (keine interpretationsbedürftigen Idiome; Übersichtlichkeit durch Absätze) und wenig Veränderlichkeit, d. h. nur gleich bleibende Bezeichnungen mit konstanter Bedeutung. Demgegenüber wird die Leichtigkeit der Sprache erreicht, indem man negative Sprache und Zahlenangaben in Ziffern (statt in Worten) vermeidet und Bilder verwendet. Aus der Beschäftigung mit der Leichtigkeit bzw. Einfachheit der Sprache wird ein weiteres Element des Komplexitätskonstrukts erkennbar: Der Schwierigkeitsgrad und damit auch der Komplexitätsgrad können nicht absolut bestimmt werden, sondern nur in Abhängigkeit von den vorhandenen individuellen Sprachfähigkeiten sowie Übersetzungs- und Rechtschreibprogrammen.
1.1.3 Stellenwert von Komplexitätsmodellen
Die Relevanz des Komplexitätsmanagements, vor allem die skizzierte heuristische Kraft von komplexitätsfokussierten Interventionen, wird entscheidend durch die Bewertung von Komplexität beeinflusst. Diese Bewertung ist durch eine markante Ambivalenz geprägt, die zur bereits angedeuteten »Komplexität des Komplexitätsmanagements« beiträgt und teilweise durch diese verursacht wird. Die extrem gegensätzlichen Bewertungen von Komplexität bewegen sich zwischen den beiden Polen der Faszination und der Konfusion. Faszination äußert sich in Geschäftsmodellen, deren Erfolg auf Komplexität beruht. Ebenfalls faszinierend sind Märkte als Koordinationsmechanismen, durch Überraschungen erzeugte Spannungserlebnisse oder die Anziehungskraft des Unbekannten und des Zufalls, beispielsweise in Form von Lotterien oder Wetten. Konfusion resultiert aus der Sichtweise von Komplexität als notwendiges Übel, Stressfaktor, als Quelle von Beliebigkeit, Orientierungslosigkeit und fehlender Identität. Dabei überwiegt die Negativbewertung, also z. B. die Gleichsetzung von Komplexität mit Verschwendung, Ballast, Übergröße, Überdosierung, Leerlauf und Wiederholungen. Die negative Bewertung schlägt sich beispielsweise nieder in Statements wie »Give me a one-handed economist: All other economists say, ›On the one hand … but on the other hand‹«. Das zweite Gesicht der Komplexität, also die »gute« Komplexität in Form von Vorteilen der Diversity (Artenvielfalt), Wahlmöglichkeiten, Spielräumen, Fortschritt, produktiven Konflikten und pragmatisch-pluralistischen Strategien, etwa zur alternativen Streitbeilegung (ADR) oder für »Beyond Mediation«-Ansätze, wird deutlich seltener erkannt.
Für das Management repräsentiert Komplexität folglich eine ambivalente Erfolgsdeterminante: Der Charakter eines positiv bewerteten Erfolgsfaktors kommt beispielsweise in folgenden Feststellungen zum Ausdruck: »Kleine Einheiten sind flexibel«, »interdisziplinär zusammengesetzte Teams sind kreativ«, »kleine und mittlere Unternehmen haben aufgrund der Größe (Anzahl von Mitarbeitern) einerseits Flexibilitätsvorteile, andererseits aber auch Größennachteile gegenüber Großunternehmen« oder »Kryptographie, d. h. die Verschlüsselung von Informationen, schafft Informationssicherheit«. Als negativ bewerteter Misserfolgsfaktor begegnet uns Komplexität in Gestalt von Überforderung (z. B. Informationsüberflutung), Überdosierung (»Overkill«), Earth Overshoot Day, Umständlichkeit (»viele Schleifen«), Unberechenbarkeit, Wechselhaftigkeit, Willkür, (negativen) Überraschungen, überhastetem Verhalten oder einer »babylonischen Sprachverwirrung«.
Am Beispiel der Selbstorganisation lässt sich illustrieren, dass das dominierende Schwarz-Weiß-Denken, d. h. einseitig positive oder negative Bewertungen, im Zusammenhang mit Komplexität inadäquat ist. Selbstorganisation ist einerseits eine Quelle von Lernen und kollaborativem Lösen von Problemen und Konflikten. Die Schattenseiten der Selbstorganisation werden durch Phänomene wie Non-Compliance, Diskriminierung, Schattenwirtschaft, Plagiate, Korruption, Managerial Entrenchment (Missbrauch von Unternehmensentscheidungen für persönliche Ziele der Entscheider), Moral Hazard, Bootlegging und Reaktanz beschrieben. Ansatzweise werden einige wenige Varianten der Selbstorganisation wie z. B. Schatten-IT (private Endgeräte der Mitarbeiter am Arbeitsplatz) oder Skunk Works (nicht autorisierte Projekte der Mitarbeiter) explizit als ambivalent beurteilt.
Der Komplexität wird man also nur durch eine differenzierte ausgewogene Bewertung gerecht. So muss die Bewertung von »Medienvielfalt« neben dem Chancenpotenzial von Multimedia (z. B. audiovisuelle Reichhaltigkeit, Videotelefonie, Second Screen) auch das inhärente Risiko von Medienbrüchen (zwischen digitalen Medien und Print-Medien) berücksichtigen. Auch in die Bewertung von Hybriden müssen sowohl die Vorteile von »Best of Both Worlds« als auch die Nachteile von »Stuck in the Middle« eingehen.
Vor dem Hintergrund dieser Ambivalenz können Fehleinschätzungen der Performance eines komplexitätsfokussierten Managements nicht verwundern: Eine Überschätzung liegt vor, wenn man nach dem Motto »Komplexität im Griff = Problem im Griff« die Erreichung eines komplexitätsfokussierten Ziels als die erfolgskritische Determinante der Performance betrachtet, etwa für die Kostendämpfung im Gesundheitswesen oder das Rightsizing (kostenoptimale Größe) von Unternehmen: Da die Komplexität jedoch nicht die inhaltlichen Aspekte einer Performanceorientierung abdecken kann, eignet sich eine komplexitätsoptimale Größe bestenfalls als Näherungslösung oder Heuristik, die anhand von inhaltlichen Performance-Indikatoren verifiziert werden muss. So reduziert eine Verschlankung der Wertkette durch Eliminieren von Aktivitäten ohne Kundennutzen die Komplexität. Mit der Auswahl konkreter Aktivitäten wäre das Komplexitätsmanagement jedoch meist überfordert. Andererseits kann es zu einer Unterschätzung der Komplexitätsorientierung kommen, wenn man mit der Formel »einfach=kostengünstig« deren Vorteil ausschließlich in einer Verschlankung sieht. Tatsächlich lassen sich durch eine Orientierung an formalen Komplexitätszielen nicht nur die Kosten, sondern auch die Qualität einer Problemlösung beeinflussen, also z. B. Kreativität, Kundenzufriedenheit oder Umweltverträglichkeit. Der lediglich heuristische Lösungsbeitrag des komplexitätsfokussierten Managements hat im Umkehrschluss zur Folge, dass eine unbefriedigende Performance nicht eindeutig auf ein inadäquates Komplexitätsmanagement zurückgeführt werden kann.
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