Die sequenzielle Einbettung in die inhaltliche Modellierung verdeutlicht einerseits, dass Komplexitätsorientierung keinen Selbstzweck darstellt, sondern nur ein Hilfsmittel in Gestalt einer »heuristischen Vorsteuerungsphase«. Zugleich wird deutlich, dass es sich bei der komplexitätsfokussierten Modellierung um einen Umweg handelt. Diese offensichtliche Komplexitätssteigerung wirft die Frage nach dem heuristischen Wert eines solchen Umwegs auf. Sie stellt sich ähnlich auch bei anderen zwischengestalteten Abstraktionsprozessen, etwa beim Data Mining, Text Mining und Visual Mining oder bei Verfahren zur Mustererkennung in Zeitreihen. Der Nutzen besteht vornehmlich in der verbesserten Identifikation von generischen Erklärungsfaktoren bzw. Erfolgsdeterminanten. Es handelt sich ähnlich wie im Systemansatz um standardisierte, generische Merkmale. Für die wirkungsorientierte Bewertung dieser Merkmale liegen also zahlreiche Evidenzen und Erfahrungswerte vor. So zeichnet sich beispielsweise die Sharing-Economy durch generische Komplexitätsmerkmale wie höheren Nutzungsgrad von Ressourcen, reduzierten Ressourcenverbrauch oder die mehrdeutige Zurechnung von Kosten auf die individuellen Nutzer in einer Sharing-Community aus. Sie müssen inhaltlich konkretisiert werden, je nachdem ob es sich um ein Car Sharing, eine sogenannte Fractional Ownership (Eigentum an selten genutzten teuren Assets), einen Maschinenring (z. B. Landmaschinen) oder ein Wissens-Sharing in Wissens-Communities bzw. im Peer-Coaching handelt.
Ein zweites Kombinationsmuster zwischen inhaltsfokussierter und komplexitätsfokussierter Modellierung ist die Simultan- oder Parallelkombination. Hierbei erfolgt parallel eine sich ergänzende Modellierung anhand formaler und inhaltlicher Bausteine. Werden beispielsweise in einem Erklärungsmodell nebeneinander komplexitätsfokussierte und inhaltsfokussierte Ursachen oder Wirkungen herangezogen, liegt eine gemischte Gesamtmodellierung vor: So wird zum Beispiel der Arbeitswert in der Arbeitsbewertung anhand von inhaltlichen Anforderungen und von komplexitätsfokussierten Anforderungen wie z. B. der Neuartigkeit der Aufgaben ermittelt. Nach derselben Logik lassen sich Umsatzeinbußen z. B. parallel durch inhaltsfokussierte Qualitätsprobleme und durch eine komplexitätsfokussierte Volatilität der Nachfrage erklären. Ist beispielsweise von »volatilen Aktienkursen« die Rede, fungiert Komplexität als zusätzliche formale Spezifikation. Modellansätze wie Leadership 4.0 oder Arbeitswelt 4.0 bezeichnen eine inhaltliche Domäne und bringen zugleich den dort stattfindenden komplexitätssteigernden Wandel zum Ausdruck. »Fixkosten« spezifizieren zugleich ein inhaltlich bestimmtes Kostenniveau und zusätzlich komplexitätsfokussiert ein komplexes, weil untypisches Kostenverhalten. Das Komplexitätsattribut »unecht« in »unechte Gemeinkosten« weist darauf hin, dass es sich tatsächlich um Einzelkosten handelt. Manchmal werden inhaltsfokussierte und komplexitätsfokussierte Charakterisierungen als Alternativen nebeneinander gestellt: Anders als bei der klassischen Alternative »gute oder schlechte Nachricht« geht es dann um »Nachricht (Transparenz) oder keine Nachricht (Intransparenz)«. Je nach Ambiguitätstoleranz gibt es bei bestimmten Empfängern der Nachricht Präferenzen für die Beseitigung der Intransparenz, auch wenn das eine belastende, weil negative Information bedeuten kann.
Das Zusammenspiel von inhaltlichen und komplexitätsfokussierten Bausteinen soll grundsätzlich überschneidungsfrei angelegt sein, etwa wenn in Ursache-Wirkung-Modellen die Wenn-Komponente (z. B. Sicherheit von Transaktionen) komplexitätsfokussiert, die Dann-Komponente (z. B. Transaktionskosten) hingegen inhaltlich spezifiziert wird (
Kap. 1.3.4
). Nach diesem Kombinationsmuster lässt sich z. B. das Phänomen »Reiche werden reicher« komplexitätsfokussiert durch Netzwerkkennzahlen wie z. B. die Konnektivität erklären: Konnektivität erklärt hier etwa, dass sich neue Netzwerkmitglieder am liebsten mit den vorhandenen Netzwerkknoten vernetzen, die bereits hochgradig vernetzt sind und durch die zusätzlichen Kontakte dann noch »reicher« (vernetzter) werden. Dabei ist darauf zu achten, dass die Parallelkombination von inhalts- und komplexitätsfokussierter Modellierung nicht in eine redundante Doppelerfassung mündet.
Vor allem bei quantitativer Erfassung von Komplexität und von Inhalt kommt eine multiplikative Verknüpfung in Betracht, sprich ein Produkt aus inhaltsfokussierten und komplexitätsfokussierten Bausteinen. Dies gilt beispielweise für Kosten- und Umsatzgrößen, die sich multiplikativ aus einem komplexitätsfokussierten Mengengerüst (mitunter auch Zeitgerüst) und einem inhaltlich determinierten Wertgerüst zusammensetzen. Grundsätzlich kommt diese formal-inhaltliche Mischung auch bei allen Erwartungswerten zur Anwendung, z. B. »nominale Verfügbarkeit mal Ausfallrate« oder »Niederschlagsmenge mal Niederschlagswahrscheinlichkeit«. Auch die Messung von Risiken basiert häufig auf einer multiplikativen Parallelkombination, bei der die Schadenswahrscheinlichkeit (Komplexitätsmerkmal) mit dem Schadensumfang (Inhaltsmerkmal) oder – wie beim Value at Risk – der Kurswert einer Aktie mit deren Volatilität multipliziert werden.
Das Wesen von Komplexität lässt sich schließlich auch dadurch konkretisieren, dass man eine Abgrenzung zu einem sehr ähnlichen inhaltsfokussierten Konstrukt vornimmt, das irrtümlicherweise oft mit Komplexität verwechselt wird: Gemeint ist die Abgrenzung von Schwierigkeit gegenüber Komplexität, spiegelbildlich von Leichtigkeit gegenüber Einfachheit. So ermitteln z. B. die Verfahren der Arbeitsbewertung primär den Schwierigkeitsgrad von Tätigkeiten, eher peripher auch dessen Komplexität, z. B. Neuartigkeit von Aufgaben oder Spielraum bei der Aufgabenerfüllung. Analog erweisen sich das Heben schwerer Gegenstände oder ein Belastungstest (Belastungs-EKG, Stresstest) als belastend, aber nicht unbedingt als komplex. In der Informatik wird die Aufgabenschwierigkeit durch die benötigte Rechenzeit (sogenannte »Polynomialzeit«) erfasst. Im Gesundheitswesen wird der Schwierigkeitsgrad beispielsweise durch Pflegegrade oder anhand der Abrechnung ärztlicher Leistungen mit dem Faktor 2,3 bzw. 3,5 definiert.
Für extreme Erscheinungsformen von Schwierigkeit werden Bezeichnungen wie Zwickmühlen, Intractability (Vallacher et al. 2010), Dilemmata, Wicked Problems (Ritchey 2005; Daviter 2017), Super Wicked Problems (Levin et al. 2012), Mission Impossible, Death Spirals, Rat Races (z. B. Aufrüstungswettlauf), Quadratur des Kreises oder mexikanisches Patt (Mexican Stand-off) verwendet.
Während es sich bei der Komplexität um ein formales Merkmal handelt, bezeichnet Schwierigkeit eine materiale Eigenschaft, die allerdings implizite Komplexität besitzt: Beim Rechenaufwand etwa ist es das Zeitgerüst (z. B. in Arbeitsstunden). Das gilt ganz offensichtlich auch für einen doppelten (komplexen) Appetenz-Aversions-Konflikt zwischen zwei Alternativen, von denen jede inhaltlich betrachtet sowohl positive als auch negative Seiten hat.
Mitunter korrelieren Komplexität und Schwierigkeit negativ, etwa im Fall von Umwegheuristiken oder schrittweisen Lösungsverfahren: Sie sind komplexer, verringern jedoch den Schwierigkeitsgrad der zu lösenden Aufgabe. In anderen Fällen verändern sich Schwierigkeit und Komplexität in dieselbe Richtung: So macht etwa die Verwendung von Fensterkuverts den Briefversand sowohl leichter als auch einfacher. Analog sind sogenannte einfache Regeln (»Simple Rules«) einzustufen, die sowohl leicht verständliche und leicht umzusetzende als auch implizit wenig komplexe Regeln darstellen (Davis/ Eisenhardt/ Bingham 2009; Bingham/ Eisenhardt 2011; Sull/ Eisenhardt 2016, S. 7 ff.). Umgekehrt ist eine (einfache) Gründungsfinanzierung ausschließlich via Selbstfinanzierung (sogenanntes Bootstrapping) beispielsweise schwierig, weil der Markt das Angebot des betreffenden Start-ups erst verzögert annimmt, so dass keine Überschüsse erzielt werden können. Im Rahmen einer SWOT-Analyse zeichnen sich schwierige Bedingungskonstellationen durch das Vorhandensein von Bedrohungen und eigenen Schwächen, leichte hingegen durch Gelegenheiten und eigene Stärken aus. Ein komplexitätsfokussierter Zugang fokussiert nicht die einzelnen Inhalte, sondern die Mischungsanteile der gegensätzlichen Erfolgsdeterminanten.
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