„Ich habe das Gefühl, Indien ist ein zweigeteiltes Land. Es gibt die grausame Hälfte und die bildschöne Hälfte.“
„Ja, irgendwie schon. Heute haben wir definitiv eine schöne Seite von Indien gesehen“, sagt Kilian leise.
Da hat er recht. Es war wunderschön. Man konnte fast die ganzen grausamen Eindrücke für einen Augenblick vergessen. Doch sobald man den einen Ort wieder verlassen hat, bekommt man die Realität erneut vor Augen geführt.
„Es war schön heute“, flüstert Kilian.
Ich glaube, er schaut mich an, doch es ist dunkel in dem Zimmer, sodass ich es nicht erkennen kann. „Ja, wunderschön. Aber jetzt freue ich mich auf unser nächstes Ziel. Wir bleiben innerhalb von Indien, wechseln jedoch noch einmal den Ort.“
Kilian unterbricht mich. „Nein, das meine ich gar nicht. Es war nicht einfach nur schön heute. Es war deinetwegen wunderschön heute.“
Ich schweige. Das hatte ich jetzt nicht erwartet. Er macht mich verdammt glücklich. Ich habe das Gefühl, dass heute ein bisschen von der Magie des Großmoguls an uns hängen geblieben ist. Wir sind zum Monument der ewigen Liebe gegangen und haben ein bisschen von dem Zauber mitgenommen, als wir das Taj Mahal wieder verlassen haben. Ich habe mich verliebt.
* * *
Ich kann mein Glück irgendwie gerade nicht fassen. Vor zwei Stunden sind wir in Kerala gelandet. Wir haben definitiv zum Abschluss einen schönen Teil von Indien erwischt. Wir stellen unsere Koffer ab. Für die nächsten paar Tage werden wir hier wohnen. Hier, in einer kleinen Hütte mitten im Grünen und an einem Fluss. Ich stelle meine Tasche neben meinen Koffer und laufe zu einem Fenster. Unsere Holzhütte steht direkt am Wasser. Ich habe das Gefühl, dass wir im Urwald angekommen sind. Die verschiedensten Grüntöne sind zu sehen. Es ist so bezaubernd hier. Als wäre ich in einem Traum. In einem Traum, aus dem ich nicht aufwachen möchte.
Kilian ist mir gefolgt und steht jetzt neben mir am Fenster. „Respekt. Du hast definitiv den richtigen Ort ausgesucht, um sich von Indien zu verabschieden.“
Da sollte er sich vielleicht eher bei meiner Oma bedanken. Wenn das möglich wäre. Ich würde alles dafür tun, um noch einmal mit ihr reden zu können. Ich möchte ihr einfach nur danken. Wir sind nicht einmal zwei Monate unterwegs. Fünf Monate haben wir noch. Und ich bin jetzt schon unfassbar glücklich und dankbar, dass ich die Möglichkeit habe, diese Reise zu machen.
„Kerala ist ein Bundesstaat in Indien. Kerala heißt übersetzt Land der Kokospalmen. Ich glaube, jetzt verstehe ich, wieso dieser Bundesstaat so genannt wurde. Es ist unglaublich hier. Wie im Urwald.“
Kilian nickt. Es war bereits später Nachmittag, als wir angekommen sind. Ich weiß nicht genau, wie lange wir hier schon stehen, aber mittlerweile geht die Sonne unter. Ein Sonnenuntergang in einer Holzhütte mitten im Urwald an einem Fluss. Ich weiß nicht, ob ich jemals etwas Schöneres gesehen habe.
„Bitte kneife mich. Vielleicht träume ich einfach nur.“
„Du träumst nicht, Alicia. Das ist die Wirklichkeit“, sagt Kilian leise. Seine tiefe Stimme klingt so schön. Ich könnte ihm ewig zuhören.
* * *
Ich wache durch das Rauschen des Flusses und den Gesang der Vögel auf. Gott sei Dank! Ich bin wirklich noch hier und habe das nicht alles geträumt. Die Sonne scheint in unser Zimmer. Ich strecke mich. Kilian ist nicht mehr neben mir im Bett. Vielleicht ist er duschen gegangen. Ich stehe langsam auf und gehe zum Fenster. Ich kann nicht genug bekommen von diesem Ausblick.
Nach dem Frühstück werden wir abgeholt. Wir fahren nicht lange mit dem Auto durch den Urwald. Schon bald erreichen wir unser Ziel.
Kilian schaut perplex aus dem Fenster. „Da steht ein Elefant!“
Ich muss lachen.
„Vielleicht kannst du ja jetzt erraten, was wir heute machen werden.“
„Sag mir nicht, wir reiten auf dem riesigen Teil?“
Ich schaue ihn nur grinsend an. Ich glaube, das ist Antwort genug. Ich freue mich total. Ich wollte schon immer einmal auf Elefanten reiten.
Wir steigen aus dem Auto und werden von einer jungen Frau begrüßt. Sie hat einen roten Punkt auf der Stirn, einen sogenannten Bindi. Das heißt, dass sie verheiratet ist. Dies wundert mich auch nicht wirklich. Sie ist bildschön und hat ein umwerfendes Lächeln. Sie reicht mir eine Kette, an der viele rosa Blumen befestigt sind. Wie lieb von ihr. Anschließend führt sie uns zu dem Elefanten und zeigt uns, wie wir am besten aufsteigen können. Ich gehe zuerst nach oben und lege mir die Blumenkette als Schmuck um den Kopf. Kilian folgt mir und setzt sich hinter mich. Er greift um meine Hüfte und hält mich fest. Ein Kribbeln durchläuft meinen gesamten Körper. Ich genieße seine Hände an meiner Hüfte. Die Frau macht uns klar, dass der Elefant gleich aufstehen wird und wir uns festhalten sollen.
Es ist ein bisschen abenteuerlich auf so einem riesigen Elefanten. Es schaukelt ganz schön auf seinem Rücken, aber die Aussicht ist genial. Ein Mann führt den Elefanten durch den Urwald. Neben uns fließt der Fluss entlang, auf der anderen Seite sind viele Palmen und andere Bäume. Kilian zeigt auf einen Baum, an dem Bananen wachsen. Nicht schlecht. Wir sind einen kleinen Rundweg gegangen. Ich kann die Stelle schon erkennen, an der wir losgelaufen sind.
Kilian zieht mich ein bisschen zu sich heran. „Du bist ein wunderschönes Blumenmädchen“, flüstert er mir ins Ohr. Durch seine tiefe Stimme bekomme ich überall Gänsehaut. Mein Herz macht einen kleinen Hüpfer und schlägt automatisch schneller.
* * *
Wir sitzen in einem Boot und werden über den Fluss gefahren. Ein Fluss mitten im Urwald. Hinter uns steht ein Mann, der das Ruder in der Hand hält, um das Boot zu bewegen. Überall ragen Palmen an den Ufern hervor. Ich kann einen Affen auf einem Baum erkennen. Ich habe noch nie so viel Grün auf einmal gesehen. Ab und zu tauchen zwischen den Bäumen ein paar kleine Hütten auf, in denen Besucher untergebracht werden. Kerala ist ein schönes Ziel für eine Hochzeitsreise. Die ganze Umgebung mit dem Fluss und der Holzhütte ist schon romantisch.
Oh nein. Ich habe einen Regentropfen abbekommen. Wir haben Ende Juni. Eigentlich kein Wunder. Ab Mitte Juni ist in Indien Regenzeit. Jetzt sind es nicht mehr nur einzelne Tropfen, sondern es ist schon ein leichter Regen. Leider bleibt es nicht dabei, es wird immer schlimmer und mittlerweile schüttet es. Der Bootsmann erklärt uns auf Englisch, dass die Strömung des Flusses bei Regen ganz schön stark werden kann und wir leider die Fahrt abbrechen müssen. Er fährt auf das Ufer zu, schafft das Boot ein Stück aus dem Wasser und bindet es an einen Baum.
Wir sind alle komplett durchnässt. Das Wasser tropft schon an meinen Sachen herunter. Zum Glück ist es noch so warm, dass man nicht frieren muss. Der Bootsmann entfernt sich ein Stück von uns. Wahrscheinlich versucht er, jemanden zu finden, mit dem wir hier wegkommen können. Ich stelle mich unter einen Baum, doch er bringt nicht wirklich etwas gegen den Regen. Ich werde genauso nass, als würde ich unter freiem Himmel stehen. Die Regentropfen fallen von den Blättern herab und prallen auf meinen Körper. Kilian kommt langsam auf mich zu. Ich schaue ihm in die Augen. Sie sind schlicht braun, aber trotzdem faszinieren sie mich unfassbar. Sie ziehen mich in seinen Bann. Er kommt immer weiter auf mich zu. Ich kann den Blick nicht von seinen Augen lösen. Erst kurz bevor wir gegeneinanderstoßen würden, bleibt er stehen. Seine Hand greift behutsam nach meinen Haaren. Er spielt ein wenig mit meinen Locken herum, dann legt er seine Hand an meine Wange und streicht mit seinem Daumen sanft über meine Haut. Ich glaube, ich habe gerade aufgehört, zu atmen. Mein Herz schlägt schneller. Sein Kopf bewegt sich zu mir nach unten und ich schließe die Augen. Mittlerweile schlägt mein Herz bestimmt doppelt so schnell wie normal. Meine Knie werden weich. Seine Lippen treffen auf meine. Jetzt explodiert mein Körper komplett. Alles kribbelt und Schmetterlinge flattern wie wild in meinem Magen herum. Seine Lippen sind unfassbar weich. Seine Hände wandern an meine Taille. Vorsichtig zieht er mich an sich. Unsere Körper sind eng beieinander. Ich fahre mit meinen Händen durch seine wunderschönen Locken. Ich habe das Gefühl, dass unsere Körper zu einem verschmelzen. Ich kann sein Herz schlagen hören. Wie kann ein einziger Mensch, mich so verdammt glücklich machen? Wir lösen uns voneinander, auch wenn ich ihn noch ewig hätte küssen können. Ich öffne meine Augen wieder und schaue in sein makelloses Gesicht. Anhand seines Lächelns kann ich erkennen, dass er genauso glücklich ist wie ich. Ich habe mich Hals über Kopf verliebt. Das ist der perfekte Abschluss. Indien war trotz der schrecklichen Eindrücke insgesamt eine wunderschöne Zeit.
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