"Golden Groß", befahl Mr. Pickwick.
"Wieder bloß 'n Schietkram, Tommy", rief der Kutscher verdrießlich seinem Freund, dem Schlepper, zu, der ihm diesen Kunden zugewiesen hatte, und trieb sein Pferd an.
"Wie alt ist. dieses Tier, mein Freund?" fragte Mr. Pickwick und rieb sich mit dem Schilling, den er als Fahrgeld bereit hielt, die Nase.
"Zweiundvierzig", entgegnete der Kutscher mit einem forschenden Blick auf seinen Passagier.
"Was?" rief Mr. Pickwick und langte nach seinem Notizbuch.
Der Kutscher wiederholte seine Behauptung. Mr. Pickwick sah ihm scharf ins Gesicht, aber der Mann zuckte nicht mit der Wimper; daher notierte er unverzüglich das Faktum.
"Und wie lange halten Sie es eingespannt?" forschte Mr. Pickwick weiter, um genauere Auskünfte zu erhalten.
"Zwei bis drei Wochen", erwiderte der Mann.
"Wochen?" sagte Mr. Pickwick erstaunt und griff wieder nach seinem Notizbuch.
"Es hat seinen Stall in Pentonwil", bemerkte der Kutscher kaltblütig, "aber ich nehme es selten mit nach Hause, von wegen die Schwäche."
"Wegen seiner Schwäche?" wiederholte verblüfft Mr. Pickwick.
"Es fällt immer um, wenn's aus dem Geschirr kommt", fuhr der Kutscher fort, "aber wenn's drin ist, so richtig festgewürgt, und ich halt die Zügel stramm, da kann's ja nicht umkippen. Ich habe auch 'n paar mächtig breite Räder; sobald der Gaul sich rührt, laufen sie ihm nach, und vorwärts muß er, da hilft ihm alles nichts."
Mr, Pickwick trug diese äußerung wörtlich in sein Taschenbuch ein, in der Absicht, die Tatsache als ein einzigartiges Beispiel für die Zähigkeit der Pferde, selbst unter den kümmerlichsten Lebensverhältnissen, dem Klub mitzuteilen. Die Eintragung war kaum beendet, da waren sie auch schon in Golden Groß. Der Kutscher sprang vom Bock und half Mr. Pickwick heraus; Mr. Tupman, Mr. Snodgraß und Mr. Winkle, die bereits sehnsüchtig auf ihren berühmten Meister gewartet hatten, umdrängten ihn bei der Begrüßung.
"Hier ist Ihr Fahrgeld", sagte Mr. Pickwick und reichte dem Kutscher den Schilling; aber wie erstaunt war der Gelehrte, als dieser unberechenbare Mensch die Münze auf das Straßenpflaster warf und in blumigen Redewendungen um das Vergnügen bat, mit Mr. Pickwick um diesen Betrag boxen zu dürfen.
"Sie sind wohl toll?" rief Mr. Snodgraß.
"Oder betrunken!" meinte Mr. Winkle.
"Oder beides!" sagte Mr. Tupman.
"Ran hier!" rief der Droschkenkutscher und fuchtelte mit den Fäusten wie ein Uhrwerk. "Ran hier – alle vier Mann!"
"Das gibt 'n Fez!" schrie ein halbes Dutzend Mietkutscher. "Nimm sie in die Mache, Sam!" Und schon drängten sie sich vergnügt um die Gesellschaft.
"Was für 'n Skandal ist hier los, Sam?" fragte ein Gentleman in schwarzen Kalikoärmeln.
"Skandal?" wiederholte der Kutscher, "zu was braucht er meine Nummer?"
"Ich habe Sie ja gar nicht nach Ihrer Nummer gefragt", sagte Mr. Pickwick erstaunt.
"Na, zu was brauchen Sie sie denn?" fragte der Kutscher.
"Aber ich weiß sie ja gar nicht", antwortete Mr. Pickwick unwillig.
"Sollte man das glauben?" sagte der Kutscher zu den Umstehenden. "Sollte man das glauben: steigt doch da so 'n Spitzel in den Wagen und schreibt sich nicht bloß die Nummer auf, sondern obendrein noch jedes Wort, das man sagt – alles in seine Kladde." (Mr. Pickwick ging ein Licht auf: das Notizbuch war gemeint.)
"Hat er tatsächlich?" fragte ein anderer Kutscher.
"Klar, hat er", antwortete der erste, "und damit er mir noch fester am Kragen hat, besorgt er sich noch drei Zeugen, von wegen Beweise und so. Aber dem will ich's geben, und wenn ich sechs Monate dafür kriege. Los, ran hier!" Und schon warf der Kutscher, ohne die geringste Rücksicht auf sein Privateigentum, seinen Hut auf die Erde, schlug Mr. Pickwick die Brille aus dem Gesicht und ließ diesem Angriff sofort einen Schlag gegen Mr. Pickwicks Nase und einen weiteren gegen dessen Brust folgen. Ein dritter traf Mr. Snodgraß' Auge und ein vierter zur Abwechslung Mr. Tupmans Weste. Dann tanzte der Kutscher auf der Straße herum, kam wieder auf den Bürgersteig zurück und beraubte Mr. Winkle durch einen harten Schlag gegen den Bauch völlig des Atems. All das geschah in kaum einem halben Dutzend Sekunden.
"Wo ist die Polizei?" rief Mr. Snodgraß.
"Zerrt ihn unter die Pumpe!" riet ein Pastetenverkäufer.
"Das sollen Sie mir büßen!" keuchte Mr. Pickwick.
"Spitzel!" brüllte die Menge.
"Ran hier!" schrie der Droschkenkutscher, der während der ganzen Zeit ununterbrochen seine Boxübungen fortgesetzt hatte.
Die Menge hatte bisher untätig dagestanden und die Szene verfolgt; als sich aber die Kunde verbreitete, die Pickwickier sollten Spitzel sein, da begannen die Leute mit beachtlicher Lebhaftigkeit den Vorschlag des Pastetenverkäufers auf seine Zweckmäßigkeit zu erörtern, und man kann nicht ahnen, zu welchen Tätlichkeiten es noch gekommen wäre, wenn nicht ein neuer Ankömmling sich eingemischt und das Geplänkel überraschend beendet hätte.
"Was ist das hier für 'n Fez?" fragte ein langer, schmächtiger junger Mann in einem grünen Rock, der ganz plötzlich aufgetaucht war.
"Spitzel!" brüllte die Menge abermals.
"Wir sind keine", ächzte Mr. Pickwick in einem Ton, der jeden Unbefangenen sofort überzeugen mußte.
"Wirklich nicht? Tatsache? Wirklich nicht?" fragte der junge Mann Mr. Pickwick, während er sich durch wohlgezielte Stöße mit den Ellenbogen in die Gesichter der Leute Bahn brach. Der Gelehrte legte in wenigen hastigen Worten den wahren Stand der Dinge dar.
"Na, dann kommen Sie", sagte der Grünrock, der ununterbrochen redete, und zog Mr. Pickwick mit Gewalt hinter sich her. "Da, Nummer neunhundertvierundzwanzig, nimm dein Geld und pack dich – respektabler Herr – kenne ihn gut – ist ja Blödsinn, was du sagst – hierher, mein Herr! Und wo sind Ihre Freunde? – Alles nur Mißverständnis, wie ich sehe – macht nichts – kommt schon mal vor – besten Familien – keine Lebensgefahr – Schwein muß der Mensch haben – ab dafür! – Starker Tobak – schätze die Sorte – verdammte Schurken." Mit solchen und ähnlichen abgebrochenen Sätzen, die er mit außerordentlicher Zungenfertigkeit heraussprudelte, führte der Fremde Mr. Pickwick und seine Jünger in die Gaststube eines Wirtshauses.
"He, Kellner!" schrie der Fremde und läutete dabei heftig mit der Glocke, "Gläser her, Branntwein und Wasser, heiß, stark, süß, anständige Menge – Auge beschädigt, mein Herr? – Kellner! Rohes Rindfleisch für das Auge dieses Herrn! – nichts besser als rohes Rindfleisch für eine Quetschung, mein Herr; kalter Laternenpfahl auch sehr gut, aber unbequem – verdammt unbequem, halbe Stunde auf offener Straße mit Auge am Laternenpfahl stehen – äh – aber sehr gut – hahaha!" Und ohne auch nur Atem zu holen, schluckte der Fremde auf Anhieb einen Viertelliter der dampfenden Mischung und warf sich behaglich in einen Stuhl, als wäre nichts Unangenehmes vorgefallen.
Während sich die drei Jünger in Dankesbeteuerungen gegenüber ihrem neuen Bekannten ergingen, hatte Mr. Pickwick Muße, dessen Kleidung und äußere Erscheinung genauer in Augenschein zu nehmen.
Er war von mittlerer Statur, aber die Schmächtigkeit seines Körpers und die Länge seiner Beine ließen ihn viel größer erscheinen. Sein grüner Rock mochte zu jener Zeit, als die Schwalbenschwänze Mode waren, hübsch gewesen sein; er hatte aber augenscheinlich damals einem weit kleineren Manne gehört, da die verschmierten, fadenscheinigen ärmel dem Fremden kaum bis zum Handgelenk reichten. Er war bis ans Kinn zugeknöpft; dafür drohte jedoch sichtlich die Gefahr, daß die Rückennähte platzen könnten. Eine alte Krawatte zierte seinen Hals – aber keine Spur eines Hemdkragens war vorhanden. Die knappen schwarzen Beinkleider zeigten da und dort glänzende Stellen und verrieten so, daß sie schon lange ihren Dienst leisteten. Sie waren straff über ein Paar geflickte Schuhe gezogen, um die schmutzigen weißen Strümpfe zu verbergen; aber ohne Erfolg. Sein langes schwarzes Haar quoll in ungepflegten Locken zu beiden Seiten unter einem verdellten alten Hut hervor, und hin und wieder kam das nackte Handgelenk zwischen den Enden der Handschuhe und den Aufschlägen der Rockärmel zum Vorschein. Das Gesicht war schmal und hager, aber ein unbeschreiblicher Ausdruck von zudringlicher Unverschämtheit und grenzenloser Selbstüberhebung sprach sich in der ganzen Erscheinung des Mannes aus.
Читать дальше