Michael Blume
Verschwörungsmythen –
woher sie kommen,
was sie anrichten,
wie wir ihnen begegnen können
Patmos Verlag
Die tödliche Falle
1. Platons Falle des Dualismus
Der Mensch »als armes oder reiches Wesen«
Monismus versus Dualismus im Judentum
Die Wirkungen von Feindbildern
Fuchs in selbstgebauter Falle: Martin Heidegger
Die Verschwörungsideologie des »Islamischen Staates« (IS)
2. Vom Mobber zum Mörder: die Falle der Schuldumkehr
Der Schub in die Höhle: Hitlers heimliche Angst
Erschütterungen von Zeit und Raum durch neue Medien
Prognose: Kein Staatsstreich für Donald Trump
3. Freiheit statt Verschwörungsglauben
»Falsche Erinnerungen« und der Rothschild-Verschwörungsmythos
Was hilft gegen Verschwörungsglauben?
Gegen Verschwörungsglauben vortragen
Die Arbeit und die Freiheit von Edith Eger
Danke
Anmerkungen
Über den Autor
Über das Buch
Impressum
Hinweise des Verlags
Gewidmet
Zehra – für das Miteinander
in Liebe, Glaube, Hoffnung
»Schließlich sollte man die Tricks,
von denen ich gesprochen habe,
dingfest machen, ihnen sehr drastische
Namen geben, sie genau beschreiben,
ihre Implikationen beschreiben und
gewissermaßen versuchen, dadurch die
Massen gegen diese Tricks zu impfen,
denn schließlich will niemand
ein Dummer sein.«
Theodor Adorno (1967)1
»Sich als Opfer zu definieren
ist ein Bestreiten dessen,
was uns zu Menschen macht.«
Jonathan Sacks (2015)2
»Red Alert« – »Alarmstufe Rot«: Dieser Schriftzug springt Ihnen auch heute noch entgegen, wenn Sie die Website http://www.heavensgate.com vom 26. März 1997 aufrufen. An diesem Tag töteten sich die letzten neun Angehörigen der »Klasse«, die durch die Aufgabe ihres Körpers in ein rettendes Raumschiff gebeamt werden wollten. Einen Tag zuvor hatten sich bereits 15 Erwachsene getötet, einen weiteren Tag davor noch einmal 15. So starben insgesamt 39 Menschen innerhalb von drei Tagen, jeweils in einheitlicher, schwarzer Kleidung und mit jeweils 5,75 Dollar in der Tasche. Auf ihren ebenfalls einheitlichen Armbändern stand »Heaven’s Gate Away Team«. Auch der Gründer der Sekte, Marshall Herff Applewhite (1931–1997), befand sich unter den Toten. Einige Woche später suizidierte sich noch ein weiteres ehemaliges Mitglied, das es »bedauert« hatte, nicht beim »Aufstieg« dabei gewesen zu sein. Ein weiterer Suizidversuch ging fehl.3
Die Anhängerinnen und Anhänger der neureligiösen Gemeinschaft glaubten, dass die Erde von einer Verschwörung »luziferianischer« Außerirdischer kontrolliert werde und der Menschheit ein katastrophales »Recycling« drohe. Nur wenige Auserwählte, die in der internen »Schule« über Jahre hinweg ausgebildet worden waren, würden von einem Raumschiff guter Aliens – darunter Jesus – gerettet, das sich im Gefolge des Hale-Bopp-Kometen befinde. Das Aufgeben ihres Körpers sei demnach nur der Schritt hinauf auf »den nächsten Level«. Dieser Glaube führte sie in den Tod.
Wir wollen uns gern einreden, dass hier nur vereinzelte, willensschwache Menschen in eine Art »Gehirnwäsche« geraten und so in den Tod getrieben worden wären. Doch dass Applewhite Philosophie studiert und an einer Hochschule Musik gelehrt hat, dass kluge und gebildete Mitglieder der Gruppe zuletzt durch das Programmieren von Websites Geld verdient haben, verunsichert uns. Der Religionswissenschaftler James Lewis bemerkte schon 2003 in einer Studie zu Heaven’s Gate: »So lange eine neue Religion die Sorgen ihrer Follower anzusprechen vermag, werden selbst Dinge wie eine fehlgeschlagene Prophezeiung oder offensichtliche Heuchelei ihres Anführers keine Glaubenskrise auslösen. [...] Es war daher ein relativ kleiner Schritt für Applewhite, einen Gruppensuizid zu begründen.«4
Aber so etwas, so werden wir uns vielleicht trösten, kann doch sicher nur in den USA oder anderen weit entfernten Gesellschaften geschehen.
Wirklich? Zwischen 1994 und 1997 ermordeten und töteten sich in insgesamt vier Gruppen insgesamt 74 Anhängerinnen und Anhänger des »Sonnentempler«-Ordens in der Schweiz und in Kanada. Eltern nahmen Kinder mit in den Tod. Zu den Mitgliedern der überaus wohlhabenden Gemeinschaft zählten Arzt- und Unternehmer-, Bürgermeister- und Musikerfamilien ebenso wie Polizisten. Presseberichte, Ermittlungen und sogar zeitweilige Verhaftungen hatten die Mitglieder auch nach dem Suizid ihres Anführers nicht davon abhalten können, gruppenweise ihre »Reise in die Ewigkeit« anzutreten. Auslöser der Mord- und Selbstmordserie war der Verschwörungsglaube des Sektengründers, der in seiner Tochter den Messias und in einem anderen Jungen den »Antichristen« erkannt haben wollte.5
Mit ungezählten Toten rasten im 20. Jahrhundert auch politische Bewegungen in den kollektiven Suizid. Noch 1926 hatte sich zum Beispiel der sowjetische Gewerkschaftsführer Michail Tomski an der Kampagne Stalins gegen dessen – später in Mexiko ermordeten – Rivalen Leo Trotzki (1879–1940) beteiligt. Ein Jahr später hatte Tomski in der »Prawda« (»Die Wahrheit«) noch launig erklärt, dass »unter der Diktatur des Proletariats zwei, drei oder vier Parteien existieren können, aber unter der einen Bedingung: dass eine von ihnen an der Macht und die anderen im Gefängnis sind«. Doch später wurde auch er selbst samt »Mitverschwörern« im Namen der Partei verhaftet, gefoltert und ermordet.6
Schon bis 1938 waren fast alle Gründungskader der Kommunistischen Partei, Abertausende einfache Parteimitglieder aller Ebenen und mehr als 10.000 Offiziere der Roten Armee dem Verschwörungsglauben, dem Terror von Säuberungen, Folterungen und gegenseitigen Beschuldigungen sowie erzwungenen Suiziden zum Opfer gefallen.7 Traurige Mytho-Logik, dass Stalin nach dem »antifaschistischen« Sieg über das Hitler-Reich ebenfalls zunehmend zum Antisemitismus griff, Juden öffentlich anprangern und wegen einer angeblichen »Ärzteverschwörung« inhaftieren ließ.8
Von Adolf Hitler wird in diesem Buch noch öfter die Rede sein. Auch er trieb Millionen in den Tod und nahm sich schließlich feige selbst das Leben – nicht ohne zuvor noch die vermeintlichen jüdischen Weltverschwörer für den von ihm selbst aktiv befeuerten Krieg und den Holocaust verantwortlich zu machen. In seinem politischen Testament schrieb er: »Es werden Jahrhunderte vergehen, aber aus den Ruinen unserer Städte und Kunstdenkmäler wird sich der Haß gegen das letzten Endes verantwortliche Volk immer wieder erneuern, dem wir das alles zu verdanken haben: dem internationalen Judentum und seinen Helfern!«9 Dass heute ein libertärer Antisemit wie Tilman Knechtel auch in deutscher Sprache unter großem digitalen Zuspruch verkündet, die jüdische Familie Rothschild habe beide Weltkriege, das NS-Regime und den Holocaust entfesselt, um die Gründung des Staates Israel zu erzwingen, erschüttert mich sehr. Denn Knechtel ist nicht nur in der gleichen Stadt wie ich geboren, sondern hat mit vielen anderen genau die politische Weltanschauung vergiftet, die auch mich prägte – den Liberalismus.10 Die in meiner Jugend noch beliebte »Hufeisen«-Theorie, nach der Verschwörungsglaube nur auf der politischen Rechten und Linken vorkomme, betrachte ich inzwischen als widerlegt.
Als Mitgründer einer christlich-islamischen Gesellschaft und als christlicher Ehemann einer sunnitischen Muslimin ist die Auseinandersetzung mit Rassismus und verschwörungsmythischer Islamfeindlichkeit für mich und uns Alltag. Seit 2015 wurde ich als Leiter des baden-württembergischen Sonderkontingents für besonders schutzbedürftige Frauen und Kinder im Irak mit einer weiteren politisch-religiösen Terror- und Selbstmordsekte konfrontiert: dem selbsternannten »Islamischen Staat« (IS). Gemeinsam mit unseren kurdisch-irakischen Verbündeten konnten mein Team und ich 1.100 vor allem ezidische Frauen und Kinder, die Opfer des IS geworden waren, aus dem Kriegsgebiet ausfliegen.11
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