Michael Blume - Verschwörungsmythen

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Steckt Bill Gates hinter dem Corona-Virus, um mit dem Impfstoff noch reicher zu werden? Oder doch der Milliardär George Soros, weil er die Menschheit dezimieren will? Werden in geheimen Fabriken entführte Kinder gequält, um an das begehrte Adrenochrom zu kommen? Und gehört das alles zu einer großen jüdischen Verschwörung zur Übernahme der Weltherrschaft?
In noch nie dagewesenem Ausmaß quellen das Internet und die Sozialen Medien über von geraunten Spekulationen, von denen keine zu abstrus ist, um nicht millionenfach geteilt zu werden. Selbst hochgelehrte Menschen halten wildeste Wahngebilde für gesicherte Erkenntnisse. Und viele müssen erleben, wie Menschen, die ihnen nahestehen, in eine Fantasiewelt voller Angst abdriften.
Michael Blume analysiert die kulturgeschichtlichen und psychologischen Hintergründe, warum es solche Mythen gibt und wie sie «funktionieren». Aufgrund seiner Erfahrungen aus ungezählten Begegnungen gibt er Ratschläge, wie man kühlen Kopf bewahren und mit Verschwörungsgläubigen umgehen kann. Er zeigt die Schwachstellen von Verschwörungsbewegungen auf – und prognostiziert den Niedergang der QAnon-Bewegung um ihren scheiternden Messias Donald Trump.

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Michael Blume

Verschwörungsmythen –

woher sie kommen,

was sie anrichten,

wie wir ihnen begegnen können

Patmos Verlag

Inhalt

Die tödliche Falle

1. Platons Falle des Dualismus

Der Mensch »als armes oder reiches Wesen«

Monismus versus Dualismus im Judentum

Die Wirkungen von Feindbildern

Fuchs in selbstgebauter Falle: Martin Heidegger

Die Verschwörungsideologie des »Islamischen Staates« (IS)

2. Vom Mobber zum Mörder: die Falle der Schuldumkehr

Der Schub in die Höhle: Hitlers heimliche Angst

Erschütterungen von Zeit und Raum durch neue Medien

Prognose: Kein Staatsstreich für Donald Trump

3. Freiheit statt Verschwörungsglauben

»Falsche Erinnerungen« und der Rothschild-Verschwörungsmythos

Was hilft gegen Verschwörungsglauben?

Gegen Verschwörungsglauben vortragen

Die Arbeit und die Freiheit von Edith Eger

Danke

Anmerkungen

Über den Autor

Über das Buch

Impressum

Hinweise des Verlags

Gewidmet

Zehra – für das Miteinander

in Liebe, Glaube, Hoffnung

Die tödliche Falle

»Schließlich sollte man die Tricks,

von denen ich gesprochen habe,

dingfest machen, ihnen sehr drastische

Namen geben, sie genau beschreiben,

ihre Implikationen beschreiben und

gewissermaßen versuchen, dadurch die

Massen gegen diese Tricks zu impfen,

denn schließlich will niemand

ein Dummer sein.«

Theodor Adorno (1967)1

»Sich als Opfer zu definieren

ist ein Bestreiten dessen,

was uns zu Menschen macht.«

Jonathan Sacks (2015)2

»Red Alert« – »Alarmstufe Rot«: Dieser Schriftzug springt Ihnen auch heute noch ent­gegen, wenn Sie die Website http://www.heavensgate.com vom 26. März 1997 aufrufen. An diesem Tag töteten sich die letzten neun Angehörigen der »Klasse«, die durch die Aufgabe ihres Körpers in ein rettendes Raumschiff gebeamt werden wollten. Einen Tag zuvor hatten sich bereits 15 Erwach­sene getötet, einen weiteren Tag davor noch einmal 15. So starben insgesamt 39 Menschen innerhalb von drei Tagen, jeweils in einheitlicher, schwarzer Kleidung und mit jeweils 5,75 Dollar in der Tasche. Auf ihren ebenfalls einheitlichen Armbändern stand »Heaven’s Gate Away Team«. Auch der Gründer der Sekte, Marshall Herff Applewhite (1931–1997), befand sich unter den Toten. Einige Woche später suizidierte sich noch ein weiteres ehemaliges Mitglied, das es »bedauert« hatte, nicht beim »Aufstieg« dabei gewesen zu sein. Ein weiterer Suizidversuch ging fehl.3

Die Anhängerinnen und Anhänger der neureligiösen Gemeinschaft glaubten, dass die Erde von einer Verschwörung »luziferianischer« Außerirdischer kontrolliert werde und der Menschheit ein katastrophales »Recycling« drohe. Nur wenige Auserwählte, die in der internen »Schule« über Jahre hinweg ausgebildet worden waren, würden von einem Raumschiff guter Aliens – darunter Jesus – gerettet, das sich im Gefolge des Hale-Bopp-Kometen befinde. Das Aufgeben ihres Körpers sei demnach nur der Schritt hinauf auf »den nächsten Level«. Dieser Glaube führte sie in den Tod.

Wir wollen uns gern einreden, dass hier nur vereinzelte, willensschwache Menschen in eine Art »Gehirnwäsche« geraten und so in den Tod getrieben worden wären. Doch dass Applewhite Philosophie studiert und an einer Hochschule Musik gelehrt hat, dass kluge und gebildete Mitglieder der Gruppe zuletzt durch das Programmieren von Websites Geld verdient haben, verunsichert uns. Der Religionswissenschaftler James Lewis bemerkte schon 2003 in einer Studie zu Heaven’s Gate: »So lange eine neue Religion die Sorgen ihrer Follower anzusprechen vermag, werden selbst Dinge wie eine fehl­geschlagene Prophezeiung oder offensicht­liche Heuchelei ihres Anführers keine Glaubenskrise auslösen. [...] Es war daher ein relativ kleiner Schritt für Applewhite, einen Gruppensuizid zu begründen.«4

Aber so etwas, so werden wir uns vielleicht trösten, kann doch sicher nur in den USA oder anderen weit entfernten Gesellschaften geschehen.

Wirklich? Zwischen 1994 und 1997 ermordeten und töteten sich in insgesamt vier Gruppen insgesamt 74 Anhängerinnen und Anhänger des »Sonnentempler«-Ordens in der Schweiz und in Kanada. Eltern nahmen Kinder mit in den Tod. Zu den Mitgliedern der überaus wohl­habenden Gemeinschaft zählten Arzt- und Unternehmer-, Bürgermeister- und Musikerfamilien ebenso wie Polizisten. Presseberichte, Ermittlungen und sogar zeitweilige Verhaftungen hatten die Mitglieder auch nach dem Suizid ihres Anführers nicht davon abhalten können, gruppenweise ihre »Reise in die Ewigkeit« anzutreten. Auslöser der Mord- und Selbstmordserie war der Verschwörungsglaube des Sektengründers, der in seiner Tochter den Messias und in einem anderen Jungen den »Antichristen« erkannt haben wollte.5

Mit ungezählten Toten rasten im 20. Jahrhundert auch politische Bewegungen in den kollektiven Suizid. Noch 1926 hatte sich zum Beispiel der sowjetische Gewerkschaftsführer Michail Tomski an der Kampagne Stalins gegen dessen – später in Mexiko ermordeten – Rivalen Leo Trotzki (1879–1940) beteiligt. Ein Jahr später hatte Tomski in der »Prawda« (»Die Wahrheit«) noch launig erklärt, dass »unter der Diktatur des Proletariats zwei, drei oder vier Parteien existieren können, aber unter der einen Bedingung: dass eine von ihnen an der Macht und die anderen im Gefängnis sind«. Doch später wurde auch er selbst samt »Mitverschwörern« im Namen der Partei verhaftet, gefoltert und ermordet.6

Schon bis 1938 waren fast alle Gründungskader der Kommunistischen Partei, Abertausende einfache Parteimitglieder aller Ebenen und mehr als 10.000 Offiziere der Roten Armee dem Verschwörungsglauben, dem Terror von Säuberungen, Folterungen und gegenseitigen Beschuldigungen sowie erzwungenen Suiziden zum Opfer gefallen.7 Traurige Mytho-Logik, dass Stalin nach dem »antifaschistischen« Sieg über das Hitler-Reich ebenfalls zu­nehmend zum Antisemitismus griff, Juden öffentlich anprangern und wegen einer angeblichen »Ärzteverschwörung« inhaftieren ließ.8

Von Adolf Hitler wird in diesem Buch noch öfter die Rede sein. Auch er trieb Millionen in den Tod und nahm sich schließlich feige selbst das Leben – nicht ohne zuvor noch die vermeintlichen jüdischen Weltverschwörer für den von ihm selbst aktiv befeuerten Krieg und den Holocaust verantwortlich zu machen. In seinem politischen Testament schrieb er: »Es werden Jahrhunderte vergehen, aber aus den Ruinen unserer Städte und Kunstdenkmäler wird sich der Haß gegen das letzten Endes verantwortliche Volk immer wieder erneuern, dem wir das alles zu verdanken haben: dem internationalen Judentum und seinen Helfern!«9 Dass heute ein libertärer Antisemit wie Tilman Knechtel auch in deutscher Sprache unter großem digitalen Zuspruch verkündet, die jüdische Familie Rothschild habe beide Weltkriege, das NS-Regime und den Holocaust entfesselt, um die Gründung des Staates Israel zu erzwingen, erschüttert mich sehr. Denn Knechtel ist nicht nur in der gleichen Stadt wie ich geboren, sondern hat mit vielen anderen genau die politische Weltanschauung vergiftet, die auch mich prägte – den Liberalismus.10 Die in meiner Jugend noch beliebte »Hufeisen«-Theorie, nach der Verschwörungsglaube nur auf der politischen Rechten und Linken vorkomme, betrachte ich inzwischen als widerlegt.

Als Mitgründer einer christlich-islamischen Gesellschaft und als christlicher Ehemann einer sun­nitischen Muslimin ist die Auseinandersetzung mit Rassismus und verschwörungsmythischer Islamfeindlichkeit für mich und uns Alltag. Seit 2015 wurde ich als Leiter des baden-württembergischen Sonderkontingents für besonders schutzbedürftige Frauen und Kinder im Irak mit einer weiteren politisch-religiösen Terror- und Selbstmordsekte konfrontiert: dem selbst­ernannten »Islamischen Staat« (IS). Gemeinsam mit unseren kurdisch-irakischen Verbündeten konnten mein Team und ich 1.100 vor allem ezidische Frauen und Kinder, die Opfer des IS geworden waren, aus dem Kriegsgebiet ausfliegen.11

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