Übung zum Perspektivwechsel und zur Reflexion
1. Wenn Sie sich in die Lage der Beteiligten versetzen, was können Sie gut verstehen und was weniger gut?
2. Welche Bedeutung hat der Personalengpass für diese Situation?
3. An welcher Stelle hätte diese Frustrationskette unterbrochen werden können?
4. Was sollten die beiden Pflegefachkräfte nach dieser Erfahrung besprechen?
Lernsituation 2: Fallbeispiel Umgang mit Aggressionen im Gespräch
Für die Pflegestudentin Nicole Kern ist es mittlerweile der zwölfte Frühdienst in Folge. Glücklicherweise ist heute Freitag und dem Start ins Wochenende steht nichts mehr im Weg. Es muss lediglich noch eine angekündigte Neuaufnahme ausgearbeitet und das Mittagessen verteilt werden. Um circa 11:45 Uhr wird Herr Becker in Begleitung der Aufnahmeschwester im Bett auf die Station gefahren. Er hat einen dicken Gipsverband um sein rechtes Bein. Während Praktikantin Mona Hartz den Patienten auf sein Zimmer bringt, hört Frau Kern der Übergabe zu. Die Aufnahmeschwester erzählt, dass Herr Becker auf dem Weg zum Supermarkt gestürzt sei und sich eine Fraktur des Wadenbeines zugezogen habe.
Nicole Kern verschiebt das Ausarbeiten der Unterlagen auf später und beginnt mit dem Verteilen des Mittagessens. Als sie bei Herrn Becker angekommen ist, bringt sie ihm ein Zugangsessen. Er hebt die Abdeckung des Tellers hoch und zeigt mit seiner Mimik deutlich, was er davon hält. Es ist Freitag und da gibt es in katholischen Krankenhäusern immer Fisch – Herr Becker hasst Fisch! Das erkennt Frau Kern sofort an seiner Mimik. Herr Becker fordert die Pflegerin barsch auf, etwas anderes zu bringen: »Du blöde Kuh bist zu dumm, ein gescheites Essen zu besorgen!« Die Pflegerin sichert ihm das Essen zu und ruft direkt in der Küche an. Gestresst gibt die Küchenaushilfe jedoch zu verstehen, dass es heute nichts anderes mehr gebe, da die vegetarischen Gerichte bereits vergriffen seien. Damit kehrt Frau Kern zu Herrn Becker zurück. Dieser gibt ihr trotzig die Anweisung, das Tablett wieder mitzunehmen, und bittet darum, dass jemand ihn aufgrund seiner eingeschränkten Mobilität in die Cafeteria begleiten möge, damit er sich dort etwas holen könne. Frau Kern muss jedoch noch vor der Übergabe seine Unterlagen ausarbeiten und die Praktikantin ist damit beschäftigt, einer weiteren Dame das Essen anzureichen. Frau Kern bleibt also nichts anderes übrig, als Herrn Becker seine Bitte zu verwehren und ihm schlechten Gewissens Zwieback anzubieten: »Es tut mir leid, aber da kann ich auch nichts mehr für Sie tun!« Sie wendet ihren Blick von ihrem Patienten und verlässt das Zimmer ohne ein weiteres Wort.
Übung zum Perspektivwechsel und zur Reflexion
1. Wenn Sie sich in die Lage der Pflegefachkraft Frau Kern und des Patienten Herrn Becker versetzen, was können Sie gut verstehen und was weniger gut?
2. Wie kann sich Frau Kern verhalten?
3. Welche Folgen sehen Sie für Frau Kern, wenn sich solche Situationen wiederholen?
4. Welche Formen kultureller Gewalt sind Ihnen bekannt und welche Lösungen sind denkbar?
2.5 Perspektivische Lösungsansätze
Beide Fälle zeigen die Bedeutung professioneller Kommunikation in den helfenden Berufen, um auftretender Gewalt und ihren Folgen begegnen zu können. Mit ihr kann es gelingen, Lösungen für gewaltbelastete Situationen zu finden (vgl. Watzlawick/Beavin/Jackson 2007, Wingchen 2006). »Stimmt« die Kommunikation dann wieder, können Bedürfnisse erkannt und aneinander angepasst oder eventuelle Veränderungen vorgenommen werden, um empfundener Gewalt zu begegnen (vgl. Hausmann 2014, S. 215 ff.). So mag es etwa Frau Kern gelingen, »die Ursache der Aggression zu erkennen und das problematische Verhalten einzudämmen. Keinesfalls sollte man selbst aggressiv reagieren oder Gleiches mit Gleichem vergelten. Bei persönlichen Angriffen kann dem Patienten gegenüber eine Klarstellung nötig sein, dass man so von ihm nicht angesprochen werden will« (Hausmann 2014, S. 220). So kann es für Herrn Becker auch möglich werden, seine Frustration zu bewältigen, wenn er erkennt, warum sich die Pflegende so verhält. Ebenso werden die wechselseitigen Gewalterfahrungen Frau Ahmann, Frau Geißner und Herrn Meier als eine Gewaltspirale sichtbar, wenn den Beteiligten die gewaltbefördernden Bedingungen klar werden. Professionelle Kommunikation zielt auf die Veränderung gewaltfördernder Kommunikation in Richtung alternativer Umgangsformen sowie der Umgestaltung intrapsychischer Frustrationsprozesse ab. Dabei ist es wichtig, voreilige Lösungsversuche zu identifizieren, die das Problem verschärfen, statt es zu beseitigen. Solche »Lösungen erster Ordnung« (Rövekamp/Sommer 2016, S. 101) unterdrücken nur die Symptome, verändern aber die Beziehung nicht. Hierzu zählen etwa Strategien wie
• das Herunterspielen der empfundenen Gewaltsituation (»So schlimm war es ja gar nicht« oder »Das muss man aushalten lernen«)
• pessimistische Grundhaltungen (»Man gewöhnt sich daran«, »Das ist nun mal so«)
• die Unterstellung von Böswilligkeit, ohne eigene Anteile am Konflikt erkennen zu wollen (»Der ist schuld«),
weil die Fachkraft sich selbst schadet und die Möglichkeit der Verständigung verstellt. Demgegenüber bieten Rövekamp und Sommer Lösungen zweiter Ordnung an, die Zusammenhänge erkennen lassen und alternative Verhaltensweisen bei allen Beteiligten anregen, z. B. indem sie
• intrapsychisch einladen, die eigenen Gedanken und Vermutungen hinsichtlich des Verhaltens des Gegenübers zu hinterfragen und zu ändern
• sozial auffordern, im Sinne der Verhaltenskontrolle aufkommende Aggressionsgefühle kurzfristig abzuwehren, um später mittels alternativer Copingstrategien diese »verrauchen« zu lassen, oder schließlich
• durch eine Entschuldigung dazu beitragen, die Gewaltspirale zu unterbrechen (vgl. Rövekamp/Sommer 2016, S. 101 f.).
Zusammengefasst: Es geht um das Gestalten förderlicher Kommunikation. Dabei ist es wichtig zu wissen, dass Menschen immer auf mehreren Ebenen kommunizieren. Der direkte Austausch von Gedanken, Informationen, Meinungen, Ideen und Vorstellungen erfolgt über die verbale Kommunikation (vgl. Hornung/Lächler 2018, S. 201). Er findet über die Sprache statt, also in gesprochenen oder geschriebenen Worten. Dadurch wird es möglich, Dinge zu benennen, Zusammenhänge darzustellen und Bedürfnisse auszudrücken. Notwendige Absprachen zwischen Frau Ahmann und Frau Geißner laufen auf der verbalen Ebene. Frau Geißner wären so die Zusammenhänge des Verhaltens der WBL klargeworden, ebenso deren Gedanken und Gefühle. Frau Ahmann hätte ihre Erwartungen an den Frühdienst ausdrücken können. Frau Geißner hätte argumentieren können, warum die Kommunikation mit den PatientInnen aus ihrer Sicht doch wichtig ist. Im Besonderen ist der Gebrauch einer angemessenen Sprache wichtig. Frau Geißner verzichtet dabei auf eine kindliche Sprache (»Wenn der Popo eben dreckig bleiben soll!«) und versucht angemessen auf die Ausdrucksform von Herrn Meier zu reagieren (vgl. Sachweh 2002). Welche Aussage, Information hat die Geste ihres Patienten? Sprache ist ein wichtiges Mittel der Kommunikation, wird aber stets durch nonverbale Signale begleitet.
Daneben existiert also auch eine nicht nur an verbale Sprache gebundene zweite Ebene, die nonverbale Kommunikation. Hornung und Lächler weisen ihr eine ebenso große Bedeutung zu, wenn sie schreiben: »sie macht einen weit größeren Anteil an der zwischenmenschlichen Verständigung aus, als der Inhalt der Worte.« (Hornung/Lächler 2018, S. 202) Sie drückt sich aus über Gestik, Mimik, Körperhaltung und das Verhalten im Raum. Mit Letzterem ist gemeint, wie nah oder distanziert Menschen ihren GesprächspartnerInnen gegenübertreten. Hinzu kommen Dinge: Kleidung und Statussymbole sind Objekte mit kommunikativer Wirkung. Sie signalisieren etwa Stellungen und Funktionen und können in der helfenden Beziehung als dienlich wie auch als hinderlich erlebt werden. Insbesondere in Krankenhäusern gelten Bekleidungsregeln als ein Ausdruck der Krankenhaushierarchie (vgl. Hornung/Lächler 2018, S. 204). Im Gegensatz zur verbalen Kommunikation findet nonverbale Kommunikation also durch Ausdruck des Körpers, Objekte und Stellung im Raum statt und wird visuell wahrgenommen. Helfende können lernen, dass z. B. Mimik ein wesentlicher Bestandteil der Kommunikation ist. Menschen lernen im Laufe ihrer Sozialisation zu unterscheiden, wann welcher Ausdruck von Frustration angemessen ist oder wann die Haltung zu bewahren ist, um dann nicht etwa frustriert den Waschlappen zurück in die Schüssel zu werfen. Solche Gesten lassen Desinteresse, Resignation oder Verärgerung annehmen. Der Interpretationsspielraum ist dabei eher groß, so mag Herr Meier dieses Verhalten auch noch anders deuten: »Habe ich die Schwester jetzt verletzt?« Fehlinterpretationen können wiederum Frustration erzeugen, wenn die entsprechende Reaktion von Frau Geißner wiederum als Zurückweisung empfunden wird.
Читать дальше