Giorgio Bassani - Der Reiher

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Nichts ist mehr wie früher: Zwar ist der Faschismus vorbei, die alte bürgerliche Ordnung aber aus den Fugen geraten. Was soll Edgardo nur tun, um seine Handlungsunfähigkeit zu überwinden?
Sehr früh am Morgen steht Edgardo auf, um zur Jagd zu gehen, auch wenn es dafür eigentlich zu kalt ist. Aber irgendetwas muss er ja tun. Seine Frau langweilt ihn, sein Töchterchen versetzt ihn in Hilflosigkeit, seine Landarbeiter proben den Aufstand, mit seinem Neffen, der sich den Faschisten angeschlossen hatte, ist er auseinander gekommen. Als er nach vielen Hindernissen endlich doch am Ziel anlangt und auf einen Reiher schießt, wird er das Gefühl nicht los, er schieße gewissermaßen auf sich selbst.
Ein großartiger Roman über die Unfähigkeit, mit einer veränderten Welt zurechtzukommen.

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Die italienische Originalausgabe erschien 1968 unter dem Titel L’airone bei Arnoldo Mondadori Editore in Mailand. Die erste deutsche Ausgabe erschien 1970 beim Piper Verlag in München. Die Übersetzung wurde nach der Ausgabe der 1998 bei Arnoldo Mondadori in Mailand von Roberto Cotroneo herausgegebenen Opere durchgesehen.

Diese Ausgabe wurde in freundlicher Zusammenarbeit mit der Fondazione Giorgio Bassani veröffentlicht.

EBookAusgabe 2020 1968 1974 1980 Giorgio Bassani All rights reserved - фото 1

E-Book-Ausgabe 2020

© 1968, 1974, 1980 Giorgio Bassani. All rights reserved

© 2007 für diese Ausgabe: Verlag Klaus Wagenbach, Emser Straße 40/41, 10719 Berlin

Covergestaltung Julie August unter der Verwendung einer Fotografie © Roy Botterell / Corbis. All Rights Reserved.

Das Karnickel zeichnete Horst Rudolph.

Datenkonvertierung bei Zeilenwert, Rudolstadt.

Alle Rechte vorbehalten. Jede Vervielfältigung und Verwertung der Texte, auch auszugsweise, ist ohne schriftliche Zustimmung des Verlags urheberrechtswidrig und strafbar. Dies gilt insbesondere für das Herstellen und Verbreiten von Kopien auf Papier, Datenträgern oder im Internet sowie Übersetzungen.

ISBN: 978 3 8031 4303 7

Auch in gedruckter Form erhältlich: 978 3 8031 2574 3

www.wagenbach.de

Erster Teil

1

Nicht jäh, sondern eher mühsam aus der bodenlosen Tiefe des Unbewußten auftauchend, suchte Edgardo Limentani mit der rechten Hand den Nachttisch zu erreichen. Der kleine Reisewecker, den ihm seine Frau Nives vor drei Jahren in Basel zu seinem zweiundvierzigsten Geburtstag geschenkt hatte, hörte nicht auf, im Dunkeln sein Stakkato zu läuten. Es war, bei aller Gedämpftheit, ein schriller, hartnäckig mahnender Ton, den man zum Schweigen bringen mußte. Limentani zog die rechte Hand zurück, öffnete die Augen und drehte sich auf die Seite, wobei er sich mit seinem ganzen Gewicht auf den rechten Ellenbogen stützte, während er gleichzeitig die linke Hand ausstreckte; und in dem Augenblick, in dem er mit den Fingerspitzen das feine, schon etwas abgenutzte Wildleder des Weckers berührte und durch einen Druck auf den Knopf das Läutwerk abstellte, las er auf dem Zifferblatt an der Stellung der leuchtenden Zeiger die Stunde ab. Es war vier Uhr: genau die Zeit, zu der er, wie er sich am Abend vorgenommen hatte, aufstehen wollte. Wenn er in Volano rechtzeitig ankommen wollte, durfte er jetzt keine Minute mehr verlieren. Alles brauchte seine Zeit: aufstehen, auf die Toilette gehen, sich waschen, rasieren, anziehen, einen Espresso trinken und so weiter, so daß er sich kaum vor fünf Uhr ins Auto setzen konnte.

Aber als er Licht gemacht hatte und sich, auf dem Bett hockend, langsam im Zimmer umblickte, packte ihn plötzlich ein solches Gefühl der Niedergeschlagenheit, daß er versucht war, alles zu lassen und nicht zu fahren.

Vielleicht lag es an der Kälte oder an dem allzu schwachen Licht, das von der Deckenbeleuchtung herabschien, jedenfalls war ihm sein Schlafzimmer, in dem er, abgesehen von einer kurzen Zeitspanne nach seiner Heirat und natürlich von den anderthalb Jahren in der Schweiz, seit seiner Kindheit geschlafen hatte, noch nie so fremd und unfreundlich erschienen. Der dunkle Schrank, der, groß, breit und bauchig, wie er war ( Schrank mit Bauch hatte ihn seine Mutter immer genannt), einen großen Teil der linken Wand einnahm; die plumpe Kommode auf der rechten Seite, über der ein kleiner ovaler Spiegel hing, der jedoch so trübe war, daß man sich nicht einmal die Krawatte vor ihm binden konnte; der Gewehrschrank aus Mahagoni und Glas im Hintergrund, klein neben der Vertikalen der grauen Übergardine; die Stühle; der Kleiderständer, an dem seine Mutter schon am gestrigen Nachmittag sein wollenes Unterzeug unübersehbar aufgehängt hatte, eine Kombination aus Unterjacke und langen Unterhosen (den Rest seiner Jagdausrüstung samt den Stiefeln hatte sie drüben ins Bad gelegt); schließlich die verschiedenen Wechselrahmen an den Wänden, in denen etwa sein Doktordiplom oder Fotografien steckten, vorwiegend Aufnahmen aus den Bergen: Alles, worauf sein Blick fiel, jedes einzelne Möbel und jeder Gegenstand, war ihm zuwider. Ihm war, als sähe er das alles zum erstenmal, oder, genauer gesagt, als vermöge er erst jetzt, die schäbige, abstoßende, ja absurde Seite daran zu sehen.

Er gähnte und fuhr sich mit der Hand über Wangen und Kinn, die sich rauh und unrasiert anfühlten. Dann schlug er die Bettdecke zurück, setzte die Beine auf den Boden und nahm vom Stuhl den kamelhaarfarbenen wollenen Morgenrock, den er über den Schlafanzug zog, und schlüpfte in die Hausschuhe. Einen Augenblick darauf stand er am Fenster und blickte durch die Fensterscheiben und die halbgeschlossenen Läden auf den Hof hinunter.

Zu sehen war so gut wie nichts. Der Hof war noch in so tiefes Dunkel getaucht, daß man den Brunnen in seiner Mitte kaum erkennen konnte. Aber aus dem Küchenfenster der Hausmeisterleute, der Manzoli, fiel ein greller Lichtstreifen, so hell, daß er auf der hohen Mauer gegenüber, die mit der Vorderseite auf die Via Montebello blickte, die obersten Zweige der großen Kletterrose erreichte, die im Sommer die Hofseite der Mauer fast vollkommen bedeckte. In Böen spielte der Schirokko mit ihnen und zauste sie. Dürr und leicht bewegten sie sich ruckweise, wie unter elektrischen Stromstößen. Es regnete nicht. Solange der Wind anhielt, würde es auch nicht regnen.

Dann sah er zum Hausflur hinüber. Die Tür zur Wohnung der Manzoli im Erdgeschoß hatte sich geöffnet. Vor dem Lichtschein, der aus dem Türrahmen drang (und der sehr viel schwächer war als der aus dem Küchenfenster), zeichnete sich plötzlich eine gebeugte, vermummte Gestalt ab.

»Romeo ist schon auf«, brummte er.

Aufmerksam, regungslos, verfolgte er alle Bewegungen des Hausmeisters. Er beobachtete, wie er auf das schmiedeeiserne Gitter zuging, das den Hof vom Hausflur trennte, einen Türflügel öffnete und ins Freie trat; wie er nach oben sah und den dunklen Himmel musterte und nun, da er offensichtlich ihn, seinen Herrn, am Fenster erkannt hatte, grüßend die Mütze zog.

Er öffnete die doppelten Fensterscheiben, stieß die Läden auf und lehnte sich hinaus, um sie an der Mauer festzumachen. Ein Windstoß traf ihn, feucht, lau, fast warm.

Er richtete sich wieder auf.

»Guten Morgen«, sagte er, zum Hausmeister gewandt. »Sagen Sie bitte Imelde, sie möchte mir, wenn sie doch schon auf ist, Kaffee machen.«

»Gehen Sie trotz des Wetters, Herr Rechtsanwalt?« fragte der Hausmeister, auch er mit leiser, ruhiger Stimme.

Er nickte mit dem Kopf; dann schloß er die äußeren Fenster. Als er sich umdrehen wollte, sah er gerade noch, wie Romeo wieder die Mütze zog. Wie viele Jahre standen die Manzoli schon in ihren Diensten, überlegte er auf dem Weg ins Badezimmer, nur für einen Augenblick, als er am Gewehrschrank vorbeikam, von den hinter Glas funkelnden Gewehrläufen abgelenkt. Er kam zu dem Schluß, daß die Manzoli seit ungefähr vierzig Jahren bei ihnen im Hause sein mußten.

Er zog den Morgenrock aus und hängte ihn an den Haken an der Badezimmertür; dann ließ er heißes Wasser ins Becken laufen und nahm das Rasierzeug aus dem ledernen Etui. Währenddessen blickte er in den Spiegel.

Dies war sein Gesicht; und dennoch stand er hier und betrachtete es, als ob es nicht zu ihm gehörte, sondern das Gesicht eines anderen wäre. Mit einer argwöhnischen Genauigkeit musterte er alle Einzelheiten: die kahle, gewölbte Stirn; die drei waagrechten, parallellaufenden Falten, die sie von einer Seite bis zur anderen durchfurchten; die Augen von einem verwaschenen Blau; die dünnen, übertrieben hochgezogenen Brauen, die dem Gesicht sozusagen einen Ausdruck ständiger Unsicherheit und Ratlosigkeit verliehen; die ziemlich kräftige, aber wohlgeformte aristokratische Nase; die dicken aufgeworfenen Lippen, ein wenig wie die einer Frau; das Kinn, das durch ein Grübchen, das wie ein Komma aussah, entstellt war; die ziegelrote Farbe des länglichen, unzufriedenen Gesichts, auf dem der Bartwuchs so schwarz war, daß er ins Bläuliche spielte. Wie kläglich und unsympathisch er sein Gesicht fand – wie lächerlich! Seine Mutter hatte zwar immer gemeint – und natürlich einen Vorzug darin gesehen –, daß es dem Gesicht des Exkönigs Umberto ähnelte. Möglich. Soviel war jedenfalls sicher: Wenn die sozialistisch-kommunistische Flut weiter anstieg (und von wem sollte sie wohl eingedämmt werden? Von De Gasperi? Sah der so aus?), dann würden alle Gutsbesitzer einer bestimmten Größenordnung, zu denen zwangsläufig auch sie, die Limentanis, mit einem Besitz wie der Montina von über vierhundert Hektar, gehörten, sehr bald abdanken müssen.

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