Und schließlich tauchen ganz allmählich auch die Kinder der Damnificados auf.
Nacho – Ein Baby am Fluss – Gerettet von Samuel – Schulzeit – Der Chinese – Der Geschichtenerzähler – Emil – Wild wuchernde Haare
Nacho Morales. Ein Krüppel. Seine linke Seite ist verkümmert. Arm und Bein. Von Geburt an ist er lahm. Hat ein Muttermal unter dem rechten Auge. Wurde ausgesetzt an einem Flussufer, eingewickelt in Lumpen. Seine Eltern sagen: »Er wird bald sterben.« Der Fluss stinkt nach menschlichen Exkrementen, er fließt durch Agua Suja, eine Shantytown. Die Mutter ist mit ihren zwölf Jahren selbst noch ein Kind. Der Vater ist sechzehn, verkauft Dope. Ein Jahr, nachdem er Nacho zum Sterben liegen ließ, hört er von einem Deal mit importiertem Heroin, besorgt sich eine Waffe und ein Halstuch, bindet es sich über den Mund. Er hält sich für Billy the Kid. Springt von einem Gerüst. Bestiehlt seine eigene Gang, die Waffe ist so groß wie sein Arm. Er steckt das Geld ein. Merkt erst dann, dass er vergessen hat, sich einen Fluchtplan zu überlegen. Rennt bis zum Fluss, wo er seinen Sohn ausgesetzt hat. Die Gang folgt ihm. Schießt ihn nieder. Holt sich ihr Geld zurück. Er rollt in den Fluss. Treibt bis Blutig. Es ist die längste Reise, die er je unternommen hat. Aufgedunsen und stinkend wie ein Fisch wird er an einem Haken an Land gezogen.
Und auch Nacho wird, ein Jahr zuvor, am Haken eines Fremden an Land gezogen. Samuel, ein Wanderer aus Favelada, tagsüber ist er Lehrer.
»Was haben wir denn da?«, sagt er und hebt das Bündel auf. »Hallo, du kleiner Fisch.«
Ein Auge schielt, das Gesicht ist zerknautscht, eine kleine rosa Kaulquappe. Samuel schaut sich um. Wägt die Möglichkeiten ab. Setzt er das Kind wieder aus, stirbt es. Die Geier hacken ihm die Augen aus. Bringt er das Kind zur Polizei, landet es direkt auf dem Müllhaufen. Er nimmt es mit nach Hause. Er hat keine andere Wahl.
Er nimmt den Bus. Kauft eine Fahrkarte. Neugeborene Unglückswürmchen fahren umsonst. Der Bus wimmert und schlingert. Das Baby schläft. Eine dicke Paisana sitzt neben ihm, riecht nach Ziegen und Hühnern. Linst in das Bündel. Überlegt, ob sie liebevoll schnalzen soll. Überlegt es sich anders.
Samuel sitzt ganz hinten im Bus, ist kaum dreißig, sieht die Straßen vorüberziehen, sein faltenloses Gesicht ist so platt wie Pappe im Fenster. Quer durch die Stadt, vorbei an Fellahin und den Straßen, wo es nach Kochwurst und Falafel riecht. Ein Schaf überquert die Straße. Eine Elektrowerkstatt, in der alles die Farbe von Öl hat. Das hintere Ende einer Demonstration, die eine Nebenstraße entlanghallt, ein weißes Transparent von hinten. Beengte Geschäfte aneinan-dergepresst, aus den oberen Fenstern hängen Klamotten, flattern im Wind. Schulkinder in Uniformen, lose Banden, aus denen sich Nachzügler lösen, gehen gekrümmt unter mit Büchern vollgestopften Rucksäcken. Dann der lange Zaun parallel zur Straße, getaggt mit Hieroglyphen, Runen und Endzeit-Botschaften.
Jetzt öffnet sich die Landschaft. Vorbei an Minhas mit den tiefen Rissen im Boden und den Bergen von schwarzem Abfall, winzige Arbeiter in der Ferne. Und hier, ganze Gruppen schmutzverkrustet, sie warten an Bushaltestellen, zünden sich Zigaretten an, tätscheln sich gegenseitig den Rücken. Verkäufer mit um die Hälse hängenden Tabletts mischen sich unter den Verkehr. Öffnet das Kind nur für einen Augenblick die winzigen Augen, sieht es die verschwommenen Massen und ihr kaputtes Leben von diesem Fenster aus? Nutzt es seinen sechsten Sinn und weiß es, dass es vom Flussufer gerettet wurde, um in eine Welt endlosen Elends einzutreten? Gerettet vom Lehrer Samuel, der seine kranke Cousine in Agua Suja besucht hat. Einen Kuchen hatte er ihr mitgebracht. Er war alleine unter Bäumen spazieren gegangen, war dem Fluss gefolgt. Hatte den Gestank ignoriert, das Bündel gesehen. Sich danach gebückt. Eine helfende Hand ausgestreckt. So hatte er es sein Leben lang getan.
Sie wohnen im Haus der Blumen. Es ist winzig, beengt, aus gefundenen Backsteinen gebaut, im Winter pfeift der Wind durch die Ritzen. Aber an den Außenwänden ist es mit gelben und roten Blumen bemalt und hebt sich daher von allen anderen in Favelada ab. Und es gibt viele Häuser hier.
Als er heimkommt, nimmt er die Lumpen ab, um das Kind zu baden, und sieht den verkümmerten Arm und das Bein. Zwei bleiche Stecken an einem Körper. Anna, seine Frau, kommt herein. Kurz stockt ihr der Atem, sie hebt die Hand zum Mund.
»Der Junge lag am Fluss. In Agua Suja. Ausgesetzt. Ich hab ihn mitgebracht.«
Ihr Sohn Emil kommt herein und betrachtet die Neuigkeit. Freude. Pieken und stupsen. Samuel hebt das Kind fort aus seiner Reichweite. Und tut dies drei Jahre lang. Gemeinsam mit Anna erhält er das Kind am Leben, indem er Hände abwehrt.
Nacho ist ein Schmutzfleck. Ein Landstreicher. Ein Frosch am Ufer. Seine Kindheit verschwimmt in Krankheit: Ausschläge, Fieber, Schüttelfrost, Pocken, plötzlich auftretende Knötchen, Beulen, Pusteln, Eiterpickel.
Er lernt sprechen. Eine ruhige Stimme. An der Seite seines Vaters, jeden Abend, den ganzen Abend, und da er nicht rennen, gehen, springen, schwimmen oder kämpfen kann, liest er früh und gut.
Die Schule ruft. Samuel baut zwei Krücken für Nacho, arbeitet nachts daran, schnitzt das Holz im Mondlicht mit einem Meißel, bis die Form stimmt und sie stark sind. Nacho schiebt sie sich unter die Arme und humpelt halb, halb springt er durch den Raum. Hölzerne Flügel, wie für Engel gemacht.
Er ist zu schwach, um eine gute Zielscheibe abzugeben, die Schulhoftyrannen behandeln ihn deshalb wie einen Freak. Er tut, als wäre er stumm, um keine Aufmerksamkeit zu erregen. Beim Schreiben macht er absichtlich Fehler. Tut, als wäre er ein Schwachkopf, bis ihn eine Lehrerin, die mit Samuel befreundet ist, nach der Schule dabehält.
»Ich weiß, dass du schlau bist«, sagt sie. »Dein Vater hat es mir gesagt. Stell dich dumm, wenn du willst, aber ich gebe dir zusätzliche Hausaufgaben, zusätzlichen Lesestoff. Schreib Referate, Gedichte, beschäftige dich mit den Philosophen. Schreib Tagebuch. Schreib mir Geschichten. Ich werde sie lesen und wir bewahren das als unser Geheimnis.«
Er nickt.
Als er zehn ist, stellt ihm ein Malandro nach, nimmt ihn in den Schwitzkasten. Nacho ringt nach Luft. Ein plötzliches Schaudern, dann erschlafft der dünne Arm an seinem Hals. Der Schläger sinkt zu Boden. Über ihm steht ein riesengroßer Junge. Schwarze Haare. Schlitzaugen. Er dreht sich um und geht. Der Chinese.
Der Chinese ist eine Insel, eine Festung, die niemand betreten kann. Man sagt, er sei stumm oder spreche die Sprache nicht. Er hat ein rundes, weiches Gesicht und Hände so groß wie Bratpfannen. Mit zehn Jahren wiegt er zweihundert Pfund. Mit fünfzehn wird er dreihundert wiegen. Die Schule stellt einen Zimmermann an, der einen stabileren Stuhl für ihn baut. Beim ersten Mal schon kracht er zusammen. Sie geben ihm ein Brett auf zwei Betonblocks. Er setzt sich still darauf. Runzelt die Stirn.
Samuel bringt Emil und Nacho jeden Tag zur Schule. Wenn sie durch das Zentrum von Favelada gehen und Nacho weit ausholt, auf seinen Krücken schwingt, um Schritt zu halten, erzählt Samuel Geschichten.
»Hier hat Odewoyo seinen letzten Kampf verloren. Er war ein nigerianischer Gangster. Alle seine Mitstreiter waren schon tot. Er kam herausgelaufen und schoss um sich. Wurde von fünfzig Polizisten niedergemäht. Danach bestand er mehr aus Löchern als aus Mensch. Sie haben seine Waffe in ein Museum gebracht. Schaut, da oben. Das ist der Balkon, von dem aus Eugenia, die Schöne, den Massen Blumen zugeworfen hat. Und ihre letzte Rede hielt. Schaut dort. Die Stierkampfarena. Sieht aus wie Ödland, nicht wahr? Das war der Ort der Matadore, der Ort von Guerrero, Zubada, Hernandez, Ochoa und Davidovsky.«
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