Ein Pick-up fährt heran und Nacho und die Zwillinge steigen aus der Fahrerkabine. Hans trägt eine schwere Plastiktüte. Er stellt sie auf einen aus Sperrholz improvisierten Tisch, und Nacho zieht Mörser und Stößel aus einer kleineren Tüte, Dieter und er zerstoßen weiße Pillen. Hans zieht dünne Scheiben Fleisch von der Größe einer Männerhand aus der ersten Tüte und sie reiben das Pulver ins Fleisch, kneten es ein, falten und entfalten das rohe Steak.
Als es fertig ist, tragen Dieter und Hans das Fleisch in Stapeln zur Tür des Monolithen. Sie werfen die Stücke in den Eingang und die Steaks landen, klatsch, klatsch, klatsch, auf dem Boden.
Zehn Minuten vergehen, bis der erste Wolf in Sicht schleicht. Er beschnuppert das Fleisch, schnüffelt, hebt den Kopf. Eine Art Opfergabe. Er dreht sich einmal langsam im Kreis, atmet schwer. Plötzlich lässt er den Kopf sinken. Er reißt mit den Zähnen am Fleisch und schon bald folgen die anderen Wölfe. Hans und Dieter sehen einander an. Der letzte Wolf, der auftaucht, ist das zweiköpfige Ungeheuer. Es nimmt sich seinen Anteil.
Regenmantel wendet sich an Nacho: »Was ist das? Fütterungszeit? Wir sollten sie töten, nicht ernähren.«
Die Wölfe haben das Fleisch in die Dunkelheit gezogen, und während sie sich darüber hermachen, hört man Krallen auf Stein schlagen und kratzen.
Nacho nickt den Zwillingen zu.
Dreißig Minuten vergehen. Die Zwillinge und der Chinese treten bis auf fünf, drei, zwei Meter an die zersplitterte Tür heran. Stille. Hans geht hindurch. Er verschwindet für ein paar Sekunden, dann kommt er heraus. »Es hat funktioniert«, sagt er. »Sie schlafen alle.«
»Gut«, sagt Nacho. »Dann müssen wir uns beeilen. Die Wirkung wird nur noch ein oder zwei Stunden lang anhalten.«
Die Zwillinge und einige der anderen gehen vorsichtig hinein, dicht gefolgt von dem Chinesen, der seinen Knüppel schwingt, und sie packen die schlafenden Wölfe auf die Ladefläche des Trucks. Sie ziehen Streichhölzchen, wer das zweiköpfige Ungeheuer nehmen muss, der Chinese verliert und packt das Tier am Bauch, zieht die Köpfe mit den Füßen hinterher. Er wirft die Bestie auf den Haufen.
Hans und Dieter steigen in den Truck und Hans fährt davon. Er wird weiterfahren, bis sie die Außenbezirke der Stadt erreichen, wo die Wälder tief sind und regenfeucht, wo sich ein Wolf verstecken, wo er laufen, leben und sterben kann.
Tageslicht am Turm – Eingang – Don Felipe, der Priester – Ein Zuhause erschaffen – Hauptstützpunkt – Aussichtspunkte – Mutierte Ratten verbrennen – Lalloo organisiert Strom – Maria – Die Schule der Damnificados
Die nächtlichen Feuer schwelen nur noch. Die ersten Sonnenstrahlen brennen eine Ellipse in den Horizont und das zunehmende Licht wird eingetrübt durch den Rauch und den Nebel der Stadt. Während die Sonne auf die Shantytowns von Slomlejna Ruka, Fellahin, Dieux Morts, Sanguinosa scheint, verwandelt eine Explosion aus Licht die Hügel in ein Mosaik aus funkelnden Spiegeln. Die Stille wird durchdrungen vom Krähen der Hähne und dem abgehackten Kläffen der Hunde. Irgendwo brummt ein Truck.
Die Damnificados beginnen sich zu regen. Sie haben die ganze Nacht gewartet, Höllenhunde gesehen, die sich als Wölfe entpuppten, sie haben sich an Feuern gewärmt, ihr mitgebrachtes Essen gegessen – rohe Kartoffeln, ein bisschen Brot – und jetzt wird es Zeit, den Turm in Besitz zu nehmen.
»Die Wölfe sind weg«, sagt Nacho zu einer dicht beieinander kauernden Familie. »Wir können rein.«
Er geht mit ihnen, seine Krücken hinterlassen eine Spur aus Punkten auf dem Boden.
»Der Turm gehört uns«, sagt er.
Niemand rührt sich.
»Er ist verflucht«, sagt eine Frau. Sie steht auf. Schmutzige Stirn, durchzogen von Falten, ihr Gesicht eine Straßenkarte von Sanguinosa. Sie mag fünfundsechzig sein oder vielleicht dreißig. Niemand kennt das Alter eines Damnificados. Ihre Gesichter sind Ansammlungen von Furchen, Tälern, Kratern, unerwarteten Ausbrüchen von Hässlichkeit. »Das Tier ist ein Zeichen von Gott. Wir können nicht rein.«
Nacho bleibt stehen, wuschelt sich durchs Haar, wendet sich zu ihr um.
»Ich verstehe dich«, sagt er.
»Nein, tust du nicht«, sagt sie. »Es gibt Dinge von dieser Welt und Dinge nicht von dieser Welt. Dinge, die wir auf der Welt nicht zu sehen erwarten. Gott schickt sie uns als Warnung.«
»Was sollen wir sonst tun?«, fragt Nacho. »Gehen wir nach Hause? Nehmen wir unsere Familien wieder mit zurück in unsere armseligen Hütten, in unsere Pappverschläge unter den Brücken? Oder beten wir zu Gott, dass er uns in diesen verdammten Ort eintreten lässt? Sieh nur. Die Sonne geht auf. Auch das kommt von Gott. Ein neuer Morgen bricht an.«
Nacho steht vor ihr, während das Licht ihr Gesicht gelb färbt, eine Maske aus Linien und Vertiefungen. »Gott hat uns hergebracht. Vielleicht aus einem bestimmten Grund.«
Hans, gerade erst aus den Wäldern zurückgekehrt, geht auf Nacho zu und sagt: » Du musst hineingehen , Nacho, warum gehst du nicht als Erster? Nimm den Chinesen mit.«
Und das macht Nacho. Der Riese und der Krüppel gehen gemeinsam, einer mit dem Gang eines Wrestlers, der andere humpelt auf wurmstichigen Krücken.
»Der Turm ist verflucht«, sagt die Frau zu sich selbst. »Wir können nicht rein.«
Der Chinese tritt erneut gegen die Überreste der Tür, die er eingetreten hatte, Splitter prasseln in Staubwolken herunter. Nacho und er betreten die Vorhalle, wo sie die schlafenden Wölfe geholt hatten. Im Sonnenlicht sehen sie alles, was ihnen in der Nacht verborgen geblieben war: Auf dem Boden liegen Abfälle, Knochen, bröckeliger Stein. Der Raum ist eine kleine Höhle. Auf beiden Seiten befindet sich eine Treppe. Hinten ein offener Fahrstuhlschacht. Modernde Papierstapel, Schimmel kriecht die Wände hinauf.
Nacho und der Chinese gehen über die beiden Treppen, jeder über eine. Die Stufen sind flach, ausgetreten. Nacho schleppt sich in das Stockwerk darüber. Ein Gang. Der Chinese taucht auf der anderen Seite des Gebäudes auf. Kleine Apartments. Zehn auf jedem Gang. Nacho zählt bereits, überlegt, wie viele Damnificados sie sind, wer kommt in die oberen Stockwerke und wer nach unten. Wie bringt man jemanden fünfzig Stockwerke hoch im Himmel unter, wenn der Fahrstuhl kaputt ist? Wie löst man das Problem: Die Älteren müssen in die niedrigeren Stockwerke, aber dort werden auch die Krieger gebraucht, denn wenn der Turm angegriffen wird, dann zuerst dort.
Wie kann er seine Beziehungen nutzen, damit wieder Wasser in den verrosteten Leitungen fließt? Wie ein Gemeinwesen aufbauen in dieser hoch aufragenden Gruft?
Er bahnt sich einen Weg in die Vorhalle zurück und will die Damnificados gerade rufen, als er sie langsam, wie Zombies, durch den Eingang strömen sieht. Familien mit schlafenden Kindern über den Schultern. Männer mit Dreadlocks so alt wie Methusalem.
Gebeugte Schultern, die Menschen verlieren sich in ihren Mänteln, Taschen und Mützen, die in der morgendlichen Hitze ungeeignet sind.
Und er denkt: »Das ist es. Das ist der Anfang.«
»Zweifle nie daran, was hundert Seelen vollbringen können, sofern Zeit und Not vorhanden sind.« Don Felipe Holguin steht vor Nacho. Ein Priester in Sandalen. Unrasiert, grau. Er ist groß und leicht gebeugt, hat aber die Nase des Boxers, der er einmal war, bevor er den Ruf des Herrn vernahm.
»Wir haben sechs hundert Seelen«, sagt Nacho.
Damnificados. Die Ärmsten der Armen, sie erklimmen die Höhen des dritthöchsten Gebäudes der Stadt. Sicarios. Messerstecher. Auftragskiller. Bandidos. Flink, mit kaltem Blick. Die Unheiligen, die Unbehausten, angeführt von einem Lahmen. Nacho teilt die Damnificados in Sechsergruppen ein, lässt die Familien zusammen. Ein Viertel von ihnen kennt er mit Namen.
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