» Wo ist der Große ? Wo ist der Koloss?«, fragt der eine.
»Der Turm oder der Chinese?«, fragt der andere.
» Der Turm . Welcher Chinese?«
»Wirst du merken, wenn du ihn siehst. Er ist riesig. Einmal hat er einen Ochsen getötet.«
»Wer hat das nicht?«
»Er hat ihn mit bloßen Händen erwürgt.«
Nacho, der Krüppel, biegt um eine Ecke, sieht den Monolithen und bleibt stehen, er denkt, das ist genau so, wie es vor vielen Jahren in Zerbera geweissagt wurde. Er spürt die Damnificados um sich herum, hört sie atmen, erkennt die Gerüche – eine moschusartige Anthologie aus altem Essen, Schweiß, Pisse und Abfall. Er erkennt sie wieder . Erkennt es wieder, denn er hat von dieser Zeit und diesem Ort geträumt. Seitwärts wie ein Krebs überquert er die Straße, raus aus dem Schatten. Geht einfach so achtlos herüber, die hölzernen Muletas unter den Armen zieht er sein lahmes Bein nach. Er weiß, er ist der Erste und muss der Erste sein. Er geht am Eingang vorbei, wo auf eine Tafel Torre de Torres geschrieben stand, bis die Graffiti-Künstler die Worte auf Rey de Reyes verkürzten. König der Könige.
Und kaum hat Nacho die Tafel passiert, folgen die anderen, erst der Chinese, dann die Zwillinge.
»Das ist er. Er ist ein Bär.«
»Er ist ein Elefant.«
»Er ist ein Chinese.«
»Er ist ein Bär.«
Dann die Frau mit dem Hund in der Schubkarre. Der Reifen quietscht. Sie flucht auf die Welt wegen ihres Pechs. Kaputte Schubkarre, kaputter Hund. Er schläft, eingelullt von der Fahrt aus Sanguinosa hierher, lässt den langen hellen Kopf über den Rand hängen.
Die Damnificados kommen herüber. Sie stehen bereit. Sie schauen zu dem hoch aufragenden Monolithen auf. Babel in Black. Melierter Beton. Ein Heim fern der Heimat. Sie umringen ihn, schwirren umher. Warten. Sie blicken einander an. Irgendwo schlägt eine Uhr zwölf.
»Und jetzt?«
»Wir warten auf Nacho. Er sagt, was zu tun ist.«
Nacho kommt heran. Der Eingang ist verbarrikadiert, kreuz und quer mit Holzlatten vernagelt. Er gibt dem Chinesen Zeichen, sagt leise etwas. Der Chinese geht zur Tür und nimmt seinen Knüppel mit beiden Händen. Er holt einmal aus und mit einem Knall wie von einem Schuss platzt eine Latte ab. Nägel springen davon. Ein letzter Tritt und sie gibt nach. Leiser Jubel hebt an.
Eine Frauenstimme: »Jetzt gehört er uns.«
Nacho wird von seiner Armee der Damnificados überholt. Sie nähern sich der Tür und dann hören sie es. Sie bleiben stehen. Zuerst ist es ein Winseln, aber dann sinkt der Ton um eine Oktave auf ein tiefes Knurren. Niemand rührt sich. Wieder das Knurren. Im Eingang, in der Dunkelheit, bewegt sich eine Silhouette.
»Das ist ein Hund.«
»Ein wilder.«
Im Halbdunkel erkennen sie seine Umrisse. Er geht im staubigen Vorhof auf und ab. Wieder leises Knurren. Er bewegt sich nach vorne. Dann bricht ein Strahl Mondlicht durch die Dunkelheit, trifft auf die gesplitterten Latten, gerade als das Tier näherkommt und die Reißzähne bleckt. Die Damnificados starren es an. Etwas stimmt nicht. Das ist wider die Natur. Das Biest hat zwei Köpfe.
Luftschnappen, dann weichen sie zurück. Dutzende bekreuzigen sich und beten. Eine Frau hält ihrem Sohn die Augen zu. Der Chinese, schwer atmend nach dem Aufbrechen der Tür, hört auf zu keuchen und starrt mit gespenstischem Blick.
Das Tier stößt überirdisches Geheul aus doppelter Kehle aus, reißt beide Mäuler weit auf, in jedem sind zwei Reihen von Reißzähnen zu sehen. Die Armee rührt sich nicht. Der Mond schiebt sich hinter einen Wolkenschleier, breitet eine Decke aus Dunkelheit über alles.
Einer der Damnificados wendet sich an Nacho.
»Das ist ein Zeichen von Gott. Wir dürfen da nicht rein.«
Ein anderer: »Gott? Die Bestie kommt aus der Hölle. Wir brauchen einen Priester.«
Ein Mann in einem Regenmantel voller schwarzer Ölflecken dreht sich um und schaut in die Runde. »Wir brauchen keinen Priester. Wir brauchen ein Gewehr. Wir müssen sie töten.«
Erneut heult das Tier in die Nacht, die Mäuler hoch erhoben. Das Biest ist räudig, aber stark. Seine Köpfe bewegen sich im Einklang, ragen aus demselben kurzen, sehnigen Hals.
Regenmantel sagt zu dem Chinesen: »Schlag es. Knüppel es nieder. Mach es tot.«
Der Chinese rührt sich nicht.
Die Frau mit der Schubkarre sagt: »Wir töten keine Hunde. Die sind wie wir.«
»Wir haben keine Wahl«, sagt Regenmantel. »Wie kommen wir sonst in den Turm?«
»Das nennt ihr einen Hund?«, sagt ein anderer.
Nacho tritt vor. Er betrachtet das Biest mit zusammengekniffenen Augen und sagt flüsternd: »Du hast Recht. Das ist kein Hund. Das ist ein Wolf.«
»Das kann kein Wolf sein«, sagt Schubkarre. »Wölfe leben nicht in der Stadt.«
»Dieser schon«, sagt Nacho.
Regenmantel wendet sich an Nacho. »Dann ist es eben ein Wolf. Das heißt, wir töten ihn.«
Nacho sagt: »Nicht ihn . Es muss heißen: sie . Da sind noch mehr.«
»Woher weißt du das?«
Hinter dem Wolf bewegt sich etwas, eine Versammlung.
»Weil er um Hilfe gerufen hat.«
Ein Dutzend weitere Wölfe tappen in Sichtweite. Sie haben jeweils nur einen Kopf, sind schlank, haben die Ohren aufgestellt, ihre Blicke sind kalt. Sie starren die Armee an, während die Armee zurückstarrt.
»Wir haben Schusswaffen«, sagt einer der vermummten Damnificados. »Wir können Warnschüsse abgeben.«
Nacho schüttelt den zerzausten Kopf. »Wenn du einen Schuss abgibst, bricht die Hölle los. Die reißen uns die Kehlen raus.«
»Wir müssen das Gebäude einnehmen. Lasst sie uns töten«, sagt Regenmantel. »Dann braten wir sie.«
Niemand rührt sich. Der zweiköpfige Wolf starrt Nacho an. Nacho wendet sich ab und spricht.
»Macht Feuer. Hier liegt überall Abfall herum, Holz und Papier. Baut alle zehn Meter um den Turm herum eine Feuerstelle. Wo sind die Zwillinge?«
Hans und Dieter treten vor.
»Kommt mit. Wir brauchen den Truck eures Vaters.«
Rings um den Turm herum fließt ein Strom aus Schutt und Schlamm, aus Zeitungen, zermatschten Pappkartons und kaputten Holzkisten.
Die Hälfte der Damnificados steht mit dem Blick zur Tür Wache, Waffen in den Händen – Rasiermesser, Springmesser, Gewehre aus dem Zweiten Weltkrieg, Pistolen, die wie Wasserpistolen aussehen, Knüppel, Metallteile, Stöcke, Steine und Flaschen. Die andere Hälfte streift durch den Müll und fischt alles Brennbare heraus. Die Kinder gehen in die Hocke, senken die Köpfe, forschen mit den Fingern. Eine Frau aus einer Shantytown namens Mundanzas zieht ihren Schleier ab und sagt zu Schubkarre:
»Wieso nimmst du den Hund nicht raus und lässt uns die Schubkarre zum Holzsammeln nehmen?«
»Warum steckst du dir das Holz nicht dahin, wo die Sonne nie scheint?«
In Gruppen häufen sie Abfälle auf. Ein Mann findet einen Kanister Kerosin und geht an jeden Haufen und gießt ein bisschen was drauf. In ihrer Angst beobachten sie weiter den Eingang, wo sich die Wölfe scharen. Dann zünden die Damnificados die Haufen mit Streichhölzern und Feuerzeugen an. Schon bald ist der Turm von einem Ring aus kleinen Feuern umgeben, die Wölfe ziehen sich in die Dunkelheit zurück und einige der Älteren erinnern sich an die Legende von Las Bestias de la Luz Perpetua aus einer Zeit, bevor sechzig Stockwerke hohe Türme im Zentrum der Stadt gebaut wurden.
Eine Stunde vergeht. Kinder verstecken sich hinter den Beinen ihrer Eltern, spähen dazwischen hervor und verschwinden wieder, und die Damnificados stehen, sitzen oder hocken, warten, während die Flammen sie zu Helden machen, so wie Flammen dies stets tun. Im flackernden Licht ist ihr Schmutz verschwunden, auch ihre Lumpen. Ihr Hunger. Im flackernden, knisternden Licht werden sie zu alten Kriegern, reglos wie Marmorgötter.
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