1 ...7 8 9 11 12 13 ...17 »Wir mussten jedenfalls lange lüften, und der Geruch vom Holz im Ofen und der frischen Waldluft hat den Rest aus der Hütte verscheucht.«
»Es stank hier drinnen merkwürdig«, warf Stina ein und kräuselte die Nase.
»So nach Gruft. Eine Gruft an der Küste … Küstengruft. Wäre ein guter Titel für einen Thriller«, überlegte Tilda und zog eine Flasche aus ihrem Rucksack. »Schnaps?«
Charlotte lächelte wissend und nickte. »Warum lächeln Sie so eigentümlich?«, wollte Stina wissen. »Zum einen heißt es bei uns nicht einfach Schnaps, sondern Likörchen. Zumindest bei meinen Freundinnen und mir. Und zum anderen, wisst ihr um diesen Wald und das dazugehörige Gut? Hier gibt es jede Menge alte Schauergeschichten, die immer wieder gern erzählt werden.« Sie hielt inne. Tilda stellte ein kleines Glas vor Charlotte auf den Tisch und goss ihr von dem klaren Schnaps ein. »Oh, sehr interessant. Erzählen Sie.«
Die Künstlerin winkte ab und leerte ihr Glas. »Da gibt es die Geschichte der weißen Frau, die sich die Leute hier seit Jahrhunderten erzählen und die einem noch heute eine Gänsehaut über den Rücken laufen lässt. Sie handelt von einer jungen Frau, die im Kindsbett verstorben ist und noch heute als Geist ihr Kind auf dem Hof sucht. Immer wenn dort ein Kind geboren wurde, hat man alle Spiegel im Haus verhängt. Es hieß, man sollte nachts immer ein Licht im Haus brennen lassen, damit die weiße Frau das Kind nicht holt. Gesehen hat sie allerdings noch niemand. In den 50er Jahren ist dort sogar mal ein Kind im Teich vom Staberhof ertrunken. Aber ich denke, ihr sollt ein paar schöne Tage erleben und dürft euch die Laune nicht von Spukgeschichten vermiesen lassen.« Sie schüttelte ihre graue Mähne die, seit sie die Mütze vom Kopf genommen hatte, statisch aufgeladen um das Gesicht herum stand. »Wie – Spukgeschichten?«, fragte Tilda und klatschte begeistert in die Hände. »Dass dich das interessiert, hätte ich mir ja denken können«, griente Lotta. Charlotte Hagedorn betrachtete die schlanke, hoch gewachsene Studentin, deren Gesichtsfarbe selbst einer Geistererscheinung glich. »So, wie du daherkommst, könntest du die Rolle der Weißen Frau vom Staberhof sofort übernehmen.«
Die Künstlerin erhob sich. »Ein andermal. Ich muss wirklich los.« Sie klopfte sich auf die Oberschenkel. »Es wird dämmerig. Ist ziemlich früh dunkel und ich habe einen langen Heimweg. Wir sehen uns bestimmt noch einmal. Dann können wir darüber ausgiebig plaudern und dir kann ich einige Tipps für gute Fotos geben. Ich weiß ja jetzt, wo ihr untergekommen seid. Wie lange bleibt ihr?«
»Eine ganze Woche!«
»Na, dann ist jede Menge Zeit für Geistergeschichten!«
Der dunkelhaarige Marcel Andresen stand an den Tresen gelehnt, leerte sein Whiskyglas in einem Zug und stellte es zurück auf die Theke. Seine Freunde drängten sich angeheitert um die Bar und vernichteten eine Runde nach der anderen. Sie nannten es After-Work-Party, er wusste, dass sie sich hier mit Frauen für die Nacht verabredeten. Es war ein Spiel. Er steckte eine Hand in die Hosentasche seines teuren Designeranzugs und zog das Handy heraus. Ein kurzer Blick … keine Antwort. Seine Gesichtszüge verhärteten sich. Die Wangenknochen traten hart hervor und seine Haut wirkte bleich. Mit zusammengekniffenen Augen und stechendem Blick beobachtete er die Frauen, die zu laut lachten und um die Männertraube herumstanden, als hätten sie es mit Stars zu tun. Marcel sah sich als Tier in einem Wolfsrudel. Nur, dass er sich heute nicht am Fang der Beute beteiligen wollte.
Frankfurt war das ideale Pflaster für Startupper. Männer und Frauen, die über Geld und Macht verfügten. Sie nahmen sich, was sie wollten. Vorrangig die Wölfe unter ihnen.
Marcel stand als Zuschauer abseits der Horde. Er sah auf seine schwarze Uhr am Handgelenk. Ihn nervte dieser Abend gewaltig. Er wollte nach Hause, aber aus irgendeinem Grund konnte er sich nicht aufraffen. Marcel wollte nicht in die Wohnung, in der ihn alles an Stina erinnerte. Auf einmal richtete er sich auf. Dass mir das nicht früher eingefallen ist, dachte er, stieß sich vom Tresen ab und verließ, ohne dass jemand es bemerkte, die Kneipe.
Der Unternehmer schlug den Kragen seines Mantels hoch und stiefelte in eleganten Lederschuhen durch den Regen zum Parkplatz. Er drückte auf den Schlüssel in seiner Hand und stieg in den schwarzen Porsche. Jetzt wusste er, was er zu tun hatte. Er würde zu Stinas Wohnung fahren und sie zur Rede stellen. Wie kann sie es wagen, meine Anrufe zu ignorieren, wütete er innerlich. Mit starrem Blick drückte er den Schlüssel in seiner Hand, stieg ein und zog die Tür so heftig zu, dass es knallte. Marcel startete den Motor und verließ mit durchdrehenden Reifen das Gelände.
Eine halbe Stunde später hielt er vor dem Haus, in dem seine Verlobte ihr Appartement hatte. Stina wohnte dort seit zwei Jahren und war nicht dazu zu bewegen, bei ihm einzuziehen. Sie wollte zuerst in Ruhe ihr Studium abschließen. Auf eigenen Beinen stehen, hatte sie gesagt. Marcel lächelte verächtlich, als er den Altbau hinauf sah. Es brannte kein Licht in ihrer Wohnung.
Auf der anderen Seite hatte ihre Weigerung ihm neue Möglichkeiten aufgezeigt. So konnte er, wann immer er Lust hatte, willige Frauen in sein Bett holen. Er liebte es, sie zu benutzen, hart mit ihnen umzugehen, und nicht selten verließen die unbedarften Mädchen weinend seine Wohnung. Ihm war es egal. Sie waren austauschbar. So konnte er Neigungen nachgehen, von denen niemand etwas ahnte, Stina schon gar nicht. Sie hatte damit nichts zu tun, und so sollte es bleiben. Sie war sein unschuldiger Engel, die Mutter seiner zukünftigen Kinder. Marcel presste die Zähne aufeinander und stieg aus dem Wagen.
»Scheiße. So kommst du mir nicht davon«, fluchte er und trat in den Hauseingang. Marcel klingelte mehrmals bei Stina, bis er sich sicher war, dass sie nicht zu Hause war. Dann kam ihm der Gedanke an die Nachbarin und er drückte auf deren Klingel. Der Türsummer brummte, und er eilte die wenigen Stufen hinauf. »Ach, Marcel, du bist es«, murmelte die sportliche Mittzwanzigerin nicht erfreut. Er sah, wie sie mit der Hand durch ihre kurzen dunklen Haare fuhr. Eilig zog sie ihr Höschen zurecht und hielt die Arme verschränkt vor ihre Brüste, über denen sie nur ein durchsichtiges Trägerhemd trug. Sie schien geradewegs aus dem Bett zu kommen. »Dass du dich hier überhaupt noch her traust!« Die Frau funkelte ihn böse an und wollte die Tür zuschlagen. Marcel stellte den Fuß dazwischen. »Wo ist sie? Ich muss sie sprechen. Ist sie hier?« Er sah sie durch verengte Augen an und wurde noch blasser. Die Frau, die halbnackt vor ihm stand, fühlte sich plötzlich unwohl. »Ich werde dir ganz sicher nicht erzählen, wo sie hingefahren sind.« Sie hielt inne und wurde sich augenblicklich ihrer Worte bewusst. Sie wurde rot und biss sich auf die Lippen. Marcel sah sie entgeistert an und schnaubte gefährlich. »Wer ist der Kerl? Rede!«, schrie er so laut, dass Speichel in ihre Richtung spritzte. Mit Wucht stieß er die Tür auf und drängte Hanna Westphal in den Flur ihrer Wohnung. Mit einem derartigen Angriff hatte sie nicht gerechnet. »He, was willst du? Ich weiß nicht, wo sie hin sind.«
»Mit wem ist sie weg? Wie heißt er?«, schrie er noch einmal. Sie schüttelte den Kopf. »Nein, das tue ich nicht! Wenn ich dir das erzähle, spricht sie nie wieder ein Wort mit mir.« Marcels Blick ließ sie erschrocken zusammenfahren. Schweißperlen traten auf seine Stirn. Er nahm den Arm hoch, legte seine Hand um ihren Hals und würgte sie. Hanna wollte schreien, aber ihre Stimme erstarb. »Wenn du mir nicht augenblicklich verrätst, was ich wissen will, mache ich dich kalt«, flüsterte er eisig und drückte fester zu. Die junge Frau keuchte, versuchte zu atmen und verzweifelt seine Hand von ihrem Hals zu befreien. Ihr Gesicht wurde tiefrot und ihre Augen quollen aus den Augenhöhlen hervor. »Rede!«
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