Glück. Es ist eins von den Wörtern, die ich immer geliebt und gern gehört habe. Mochte man über seine Bedeutung noch so viel streiten und räsonieren können, auf jeden Fall bedeutete es etwas Schönes, etwas Gutes und Wünschenswertes. Und dem entsprechend fand ich den Klang des Wortes. Ich fand, dieses Wort habe trotz seiner Kürze etwas erstaunlich Schweres und Volles, etwas, was an Gold erinnerte, und richtig war ihm außer der Fülle und Vollwichtigkeit auch der Glanz eigen, wie der Blitz in der Wolke wohnte er in der kurzen Silbe, die so schmelzend und lächelnd mit dem GL begann, im Ü so lachend ruhte und so kurz, und im CK so entschlossen und knapp endete. Es war ein Wort zum Lachen und Weinen, ein Wort voll Urzauber und Sinnlichkeit; wenn man es recht empfinden wollte, brauchte man nur ein spätes, flaches, müdes Nickel- oder Kupferwort neben das goldene zu stellen, etwa Gegebenheit oder Nutzbarmachung, dann war alles klar. Kein Zweifel, es kam nicht aus Wörterbüchern und Schulstuben, es war nicht erdacht, abgeleitet oder zusammengesetzt, es war Eins und rund, war vollkommen, es kam aus dem Himmel oder aus der Erde wie Sonnenlicht und Blumenblick . (7)
Sonnenlicht und Blumenblick – nicht erdacht und nicht erfunden: Glück ist ein Wort, das aus dem Herzen kommt, ein Wort das mit dem Herzen gehört und mit dem Herzen verstanden sein will. Wenn wir uns auf den folgenden Seiten anschicken, über das Glück nachzudenken, dann mit dieser Zielrichtung: dem Glück seinen Zauber zurückzugeben, diese zarte und empfindliche Pflanze vor Inflation und Vermarktung zu schützen, um ihr dann einen Ort in der Mitte des Lebens zu geben.
Aber um dorthin zu gelangen, ist es zunächst wichtig, sich von den Bildern und Konzepten zu befreien, die das Glück entstellt und seine Kommerzialisierung möglich gemacht haben – denn ob wir wollen oder nicht: immer sitzen uns Bilder und Verheißungen, Ideen und Ideologien wie Brillengläser auf der Nase und verzerren unseren Blick auf das Leben. So lässt sich häufig beobachten, dass eine bestimmte Idee vom Glück, ein bestimmtes Bild, das uns von irgendwoher zugeflogen ist und mit dem wir uns – warum auch immer – identifizieren, uns von unserem Glück abhält: weil wir uns eine Idee zum Maßstab nehmen, die nicht unsere ist, die nicht unserem Herzen erwächst, sondern die gedacht, konzipiert, proklamiert worden und deren Saat mit den Winden der Ideengeschichte dem Garten unserer Seele zugeflogen ist, wo sie sich nunmehr zu wuchern anschickt. Da haben sich Ideen eingenistet, die uns gänzlich überfordern: die uns ein Glück in Aussicht stellen, das nicht das Glück von Menschen, sondern die Seligkeit von Göttern (oder auch von Schafen) ist. Wo solche Ideen sich um unser Leben ranken, verschatten sie jeden Sonnenglanz: Selbst wo wir glücklich sein könnten, sind wir es doch nicht, da wir Maßstäben und Kriterien folgen, die in Wahrheit gerade nicht unsere Maßstäbe und Kriterien sind. Andererseits gedeihen im Garten der Seele ebenso Konzepte, die viel zu kurz greifen: Glücksverheißungen, die leicht erreicht werden, die aber nie einlösen, was sie versprechen (etwa: „Einfach glücklich sein. Jetzt“) und daher stets durch neue, ebenso billige Konzepte ersetzt werden können. Nein, wir müssen zunächst Unkraut jäten, bevor Blumenblick und Sonnenglanz des Glücks unser Herz erleuchten können; wir müssen Ideen kultivieren, die unserem Herzen und Leben entsprechen: die uns das rechte Maß geben.
Und hier ist die Philosophie gefragt. Denn deren Geschäft ist es seit Sokrates, uns in der alltäglichen Gedankenlosigkeit zu erschüttern, mit der wir die Zauberworte und Wahrheiten des Lebens daher plappern und uns dabei zumeist auch noch einbilden zu wissen, wovon die Rede ist. Das Gerede – wie Martin Heidegger unser achtloses und seichtes Alltagsbewusstsein nannte –ist eines der größten Hindernisse auf dem Weg zu einem erfüllten, eigentlichen und glücklichen Leben.
Dieses Hindernis aus dem Weg zu räumen, war der erste und wichtigste Schritt der philosophischen Gesprächskunst des Sokrates, dieses Meisters einer „wissenden Unwissenheit“, deren Wahlspruch lautet: „Ich weiß, dass ich nichts weiß.“. Zu den Erfahrungen des Sokrates gehörte freilich auch, dass man sich keineswegs Freunde damit macht, Menschen in ihrem Alltagsbewusstsein zu erschüttern – vor allem dann nicht, wenn man sie in ihrem Verständnis gerade derjenigen Konzepte erschüttert, mit denen sie sich identifizieren, auf denen sie ihr Selbstverständnis und Selbstwertgefühl bauen. Glück ist ein solches Konzept. Wer Menschen in ihrem Verständnis vom Glück in Frage stellt, läuft Gefahr, Hass und Ablehnung zu ernten. Sokrates wurde zum Tode verurteilt.
Nun steht dies in unseren Tagen – Gott sei Dank – nicht mehr zu erwarten, und so machen wir uns frohgemut daran, die Philosophie – im Sinne des Sokrates – als einen geistigen Weg wiederzuentdecken: als Weg zu einem in sich stimmigen, gelingenden, glücklichen Leben – als Weg zum großen Glück . Es geht auf diesem Weg weder darum, neues Wissen anzusammeln, noch wissenschaftlich gesicherte Erkenntnis zu gewinnen. Es geht darum, die Oberfläche unseres alltäglichen Geredes zu durchstoßen, in die Tiefe zu gehen, um dort die Weisheit freizusetzen und zuzulassen, die in unseren Herzen immer schon da ist. Und es geht darum, dieser Weisheit Ausdruck zu verleihen, ohne sie dabei sogleich wieder zu banalisieren, trivialisieren, korrumpieren. Es geht darum, vom Glück zu reden, ohne dabei dem Gerede zu verfallen. Aus eben diesem Grunde trägt dieses Buch nicht den Untertitel: Eine Philosophie des Glücks , sondern: Eine Philosophie der Glückseligkeit . Dieses etwas altertümlich anmutende Wort soll uns davor bewahren, allzu vorschnell dem alltäglichen Gerede vom Glück aufzusitzen.
Nun gibt es viele Möglichkeiten, auf die Frage nach dem Glück zu antworten. Man kann es – wie schon die Gesprächspartner des Sokrates – mit einer Definition versuchen. So gehen Lexika vor. Etwa das Lexikon für Religion in Geschichte und Gegenwart (RGG): „Glück meint das Gelingen des Lebens.“ (8)Oder die Brockhaus Enzyklopädie , die Glück definiert als „seelisch gehobener Zustand, in welchem der Mensch mit seiner Lage und seinem Schicksal einig und sich dieser Einhelligkeit gefühlsmäßig bewusst ist“. Wer es gerne kurz und prägnant hat, kann Staatsmänner konsultieren, haben diese doch stets eine Neigung zu präzisen Aussagen. So formulierte, kurz nachdem Thomas Jefferson 1776 in der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung das Streben nach Glück ( pursuit of happiness ) in den Rang eines bürgerlichen Grundrechts erhoben hatte, der zweite Präsident der Vereinigten Staaten, John Adams, kurz und knapp, Glück bestehe aus ease, comfort, security : Wohlbehagen, Zufriedenheit und Sicherheit (9). Damit aber sollten wir uns nicht zufriedengeben. So schreibt Ludwig Marcuse in seiner Philosophie des Glücks :
Zwar wird an jedem Tag von neuem und leichtsinnig der Versuch gemacht, es [das Glück] säuberlich zu definieren. Doch diese kleinen definitorischen Sätzchen, die so duftig und adrett antworten auf die Frage: was ist Glück?, decken sie nur mit ärmlichen Antworten zu. Sie setzen hinter eine lange Geschichte des Nachdenkens – eine kurze Gedankenlosigkeit. […Die lange Reihe der Definitionen zeigt] was alles schon einmal jemand glücklich gemacht hat; wie vielfältig der Mensch Glück hervorgebracht hat. Das eine Glück erhält seine vielen Gesichter von den zahllosen Ursprüngen, aus denen es wuchs. Das große Glück ist wahrscheinlich kein Plural; aber seine Herkunft ist plural. Und alle herrischen, beschränkenden, beschränkten Definitionen: „Glück ist…“, stammen aus dem Irrtum, dass Glück nur auf einem Wege entstehen kann.) (10)
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