Fachbewusstsein der Romanistik
Romanistisches Kolloquium XXXII
Lidia Becker / Julia Kuhn / Christina Ossenkop / Anja Overbeck / Claudia Polzin-Haumann / Elton Prifti
Narr Francke Attempto Verlag Tübingen
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ISBN 978-3-8233-8418-2 (Print)
ISBN 978-3-8233-0242-1 (ePub)
Das XXXII. Romanistische Kolloquium, das vom 15. bis zum 17. Juni 2017 an der Leibniz Universität Hannover veranstaltet wurde, widmete sich dem Thema „Fachbewusstsein der Romanistik“. In Zeiten der fortschreitenden Ökonomisierung und der einseitig verstandenen „Internationalisierung“ der universitären Forschung und Lehre, die sich in den beiden ersten Jahrzehnten des 21. Jh. vor allem durch substantielle Stellenkürzungen auf das Fach Romanistik ausgewirkt haben, muss die Frage „Quo vadis, Romani(stic)a?“ neu gestellt werden. Die hier zu präsentierenden Antworten darauf lassen sich schwerpunktmäßig drei Themenblöcken zuordnen: Theorien und Methoden, Romanistik-Studium und Zukunftsperspektiven des Faches. Den roten Faden, der sich durch die Mehrheit der Texte zieht, bilden Überlegungen zum Sinn und Zweck der sogenannten „Voll-„ bzw. „Mehr-Fach-Romanistik“ und zum heutigen Selbstverständnis der romanischen Sprachwissenschaft. Weitere Schwerpunkte betreffen „zentrale“ und „randständige“ Gebiete der Romanistik, den Stellenwert identitätsstiftender Wissenschaftsdiskurse, eine Verzahnung zwischen der Romanistik und der Politik, den Ist-Zustand der romanistischen Studierendenschaft, das methodische Verbesserungspotenzial sowie die Notwendigkeit eines gesellschaftlichen Engagements seitens der Fachvertreter*innen. Der vorliegende Band versammelt die in Hannover gehaltenen Vorträge, Impulsreferate im Rahmen der Diskussionsrunden „Was soll der romanistische Nachwuchs können?“ und „Vollromanistik: Pro und Contra“ sowie zwei ergänzende Beiträge von Johannes Kramer und Georg Kremnitz.
Der Beitrag von Johannes Kramer, „Selbstdarstellungen der Romanistik während der Gründungsphase, um 1900 und nach 1988“, bietet einen fachgeschichtlichen Einstieg und vergleicht Meilensteine der romanistischen Forschung von den Anfängen bis heute. Die Gründerväter der Romanistik beschäftigten sich zunächst mit älteren Texten aus hermeneutischer Perspektive und hielten die Nähe zur klassischen Philologie sowie die Einheit von Sprach- und Literaturwissenschaft für selbstverständlich. Am Anfang des 20. Jh., in der Blütezeit der historisch-vergleichenden Romanistik, wurde eine Synthese der bereits umfangreichen Forschungsergebnisse in einer Reihe großangelegter Einführungswerke und Handbücher geleistet. Zwischen den beiden Weltkriegen wurde das Fach auf das Essentielle reduziert, ein Neuanfang gelang erst in den 60er Jahren des 20. Jh. Der Übergang vom 20. zum 21. Jh. zeichnete sich erneut durch romanistische Großprojekte wie das Lexikon der romanistischen Linguistik und die Romanische Sprachgeschichte aus. Das aktuelle romanistische Großunternehmen, die Reihe Manuals of Romance Linguistics , behandelt eine prinzipiell offene Menge von romanistischen Teilgebieten und übertrifft somit in seinem Anspruch und Umfang die früheren Summae Romanisticae , wobei das Deutsche als Publikationssprache nicht mehr zugelassen ist.
Ulrich Hoinkes stellt im Beitrag „La valeur méthodologique des quatre axiomes constitutifs de l’analyse philologique des langues romanes“ die folgenden vier Grundprinzipien der romanischen Sprachwissenschaft zur Diskussion: Die romanischen Sprachen gehen auf das gesprochene „Vulgärlatein“ zurück (Prinzip der Mündlichkeit); die romanischen Sprachen stammen nicht nur von einer, sondern von mehreren Sprachen ab (Prinzip der Heterogenität); die romanischen Sprachen haben sich aus protoromanischen Varietäten (Dialekten) im geographischen Raum kontinuierlich weiterentwickelt (Prinzip der Arealität); die romanischen Sprachen sind in einem komplexen Prozess der normativen Ausdifferenzierung entstanden (Prinzip der Standardisierung). Obwohl bereits dargelegt wurde, dass das „Vulgärlatein“ ein Konstrukt ist, fällt ein Abschied von diesem identitätstiftenden Konzept schwer, wie der Autor feststellt. Auch das Prinzip der Heterogenität, das dem bekannten romanistischen „Dia-Modell“ der „Spracharchitektur“ mit diatopischen, diastratischen, diaphasischen und diamesischen Varietäten zugrundeliegt, birgt Gefahren, wenn es unkritisch weiter tradiert wird. Das Prinzip der Arealität, dass mit der Sprachgeographie seine Blüte erfahren hat, sollte einer differenzierten historisch-sozial-kulturellen Betrachtung des Sprachraums weichen. In Bezug auf das Prinzip der Standardisierung schlägt der Autor eine auf Mündlichkeit basierende Standardologie vor, die im Unterschied zur diasystematischen Variation innersprachliche Nivellierungsprozesse in den Fokus rücken und die Dynamik sowie die sozial-normative Dimension der Standardisierungsprozesse berücksichtigen sollte.
Antje Lobin widmet sich im Beitrag „Von sprachlich korrekt zu politically correct . Normkonzepte im Wandel und Implikationen für die italienische und französische Sprachdiskussion“ einem kontrastiven Vergleich der Entwicklung und des Status quo der genderneutralen Sprache in Frankreich und Italien. Diese Form des politisch korrekten Gebrauchs wird sowohl in der Forschungsliteratur zum Italienischen als auch in derjenigen zum Französischen mehrheitlich negativ bewertet. Unterschiede lassen sich zum einen bei den Einstellungen der allgemeinen Bevölkerung gegenüber staatlichen Eingriffen in die Sprachnorm feststellen (Skepsis in Italien vs. Akzeptanz in Frankreich) und zum anderen bei den Positionen der beiden traditionsreichen Normierungsinstitutionen, der Accademia della Crusca , die sich inzwischen gegenüber der Feminisierung im institutionellen Kontext offen zeigt, und der Académie française , die den inklusiven Formen nach wie vor eine Absage erteilt. Die Autorin plädiert für ein Engagement der Romanistik zum Zweck einer umfassenden Deutung gesellschaftlicher Dynamiken rund um die Sprachnorm.
Felix Tacke rekonstruiert im Beitrag „Notizen zu einer historisch-vergleichenden kognitiven Grammatik“ die Geschichte der Sprachpsychologie, die im junggrammatischen Programm ihren Ursprung nahm und innerhalb der Romanistik mehrfach aufgegriffen und weiterentwickelt wurde. Am Beispiel des morphosyntaktischen Wandels von Zeigeaktkonstruktionen stellt er heraus, dass der sprachpsychologische Ansatz die Prämissen der aktuell einflussreichen Cognitive Linguistics US-amerikanischer Prägung vorweggenommen hat, während die modernen kognitivistischen Ansätze aber auch wichtige Aktualisierungen bereitstellen. Der Autor spricht sich für eine reflektierte und traditionsbewusste Synthese der junggrammatischen Sprachpsychologie mit den neueren kognitivistischen Modellen aus, um einen interpretatorischen Beitrag zum historisch-vergleichenden Studium der Grammatik der romanischen Sprachen zu leisten.
Silke Jansen und Alla Klimenkowa gehen im Beitrag „‚Zentrale‘ und ‚randständige‘ Gebiete in der Romanistik? Die Beispiele Sprachkontakt, Mehrsprachigkeit und Kreolsprachen“ der Frage nach, welche Rolle die Themenfelder Sprachkontakt, Mehrsprachigkeit und Kreolisierung im romanistischen Fachkanon gespielt haben. Sie stellen fest, dass obwohl die Beschäftigung mit mehreren Sprachen seit je zum Wesenskern der romanischen Sprachwissenschaft gehört hat, bis zur Jahrtausendwende die Erforschung romanischer Standardsprachen aus eurozentrischer Perspektive richtungsweisend war. Anhand reichen Datenmaterials zu Publikations- und Tagungsaktivitäten, Qualifikationsarbeiten, DFG-Forschungsprojekten, Stellenausschreibungen und Schwerpunktsetzungen bei Masterstudiengängen zeichnen die Autorinnen nach, dass aufgrund der gesellschaftlichen Relevanz von Themen wie Migration und Mobilität, Schutz der Minderheitenrechte, Globalisierung und Postkolonialismus die einstigen Randgebiete sich inzwischen zu einem hochdynamischen Feld innerhalb der Romanistik entwickelt haben.
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