Viele Jahre später, als die schwedische Schauspielerin Liv Ullman einer meiner Leinwandlieblinge war, habe ich einen großen Artikel über sie im TIME Magazine gelesen. Darin stand, daß sie sich für ihre Füße, die im Krieg in zu kleine Schuhe gepreßt worden waren, geschämt und sie, besonders als junges Mädchen, am Strand immer im Sand vergraben habe. Ich habe sie danach doppelt bewundert und fühlte mich ihr sehr verbunden! Und als ich dann noch hörte, daß Ingrid Bergman und Audrey Hepburn mit Schuhgröße dreiundvierzig durchs Leben gegangen sind, empfand ich es auch nicht mehr als Makel, daß ich mal Größe dreiundvierzig hatte – aber wenn man zehn Jahre alt ist und eine Verkäuferin vor sich hat, deren Einfühlungsvermögen in die Psyche eines Kindes wohl etwas unterentwickelt war, kann einen das schon umhauen. Kein Wunder, habe ich später im Leben eine Art Schuhtick entwickelt, der eben nur halb ein Tick ist. Es ist nicht nur die Schönheit eines Schuhs, die mich zum Kaufen animiert, sondern etwas ganz Pragmatisches: Ich muß Schuhe dann kaufen, wenn ich welche finde, die mir passen und nicht weh tun. Heute schlagen Verkäuferinnen zwar nicht mehr die Hände über dem Kopf zusammen, wenn sie meine Schuhgröße – jetzt zweiundvierzig – hören, aber in kleineren, sehr teuren Schuhläden haben sie dieses Lächeln auf dem Gesicht, das man für mild Verrückte bereit hält. So ist denn auch meine erste Frage in jedem Schuhgeschäft: »Was ist die größte Größe, die Sie führen?« Das verkürzt viele Aufenthalte.
Wieso konnte es überhaupt zu diesem »Schau mal, die trägt die Schuhe von ihrem Vater!«-Vorfall kommen? Das hatte – wundert es Sie? – wieder mal etwas mit meinem Vater zu tun ...
Kurz nach unserer Ankunft in seiner Heimatstadt hatte er eine Anstellung gefunden, als Chef-Sachbearbeiter in einer Fabrik, die Schrauben und Scharniere herstellte. Ich durfte ihn dort mal besuchen und war fasziniert. Bei meinem ersten Besuch in einer Fabrik zeigte sich schon, daß ich Betriebsbesichtigungen lieben würde – auch heute noch könnte ich locker pro Woche eine davon vertragen. Mich faszinieren Produktions-, Verpackungsund Versandvorgänge, ich finde das Geschehen hinter der Bühne aufregender als das auf der Bühne, und beim Fernsehen nehmen mich Regie und das, was hinter der Kamera alles läuft, so gefangen, daß ich fast vergesse, warum ich eigentlich im Studio bin. Aber Fernsehen ist noch gar kein Thema, sondern vorerst sind wir ja noch bei meinem Vater, der mit dem Schicksal haderte, weil nach dem Krieg noch niemand auf die Idee gekommen war, ihn mit einer Chefredakteur-Position zu betrauen. Als die Schraubenfabrik Anfang 1947 schloß, wurde er arbeitslos – ein Zustand, der ihm so behagte, daß er ihn für die nächsten gut acht Jahre beibehalten würde. Er hatte keine Mühe, sich zu beschäftigen: in der Bibliothek konnte man jedes Buch für fünf Pfennig ausleihen, und da er ja Zeit hatte, schaffte er selbst achthundertseitige Wälzer in ein paar Tagen. Jedenfalls wurde er der Besucher der Stadtbibliothek, der am meisten Bücher ausgeliehen hatte.
Irgendwie ist es ihm gelungen, die Leute ím Arbeitsamt davon zu überzeugen, daß er für viele Arbeiten gar nicht in Frage kam; erst 1955 würden sie darauf bestehen, ihn zum Buchhalter umzuschulen. Er würde dann siebenundfünfzig Jahre alt sein; sicher hat er sich täglich ausgerechnet, wann er den zu befürchtenden Angestelltenstatus mit dem des »in Ehren ergrauten Pensionierten« vertauschen könnte. Ich kann es bis heute nicht fassen, daß ein hochintelligenter, schreibbegabter Mann mit Familie offenbar beschlossen hatte, nicht mehr zu arbeiten – es sei denn, man würde ihm wieder einen Chefposten anbieten. Aber so blieb es, mit ganz wenigen, ganz kurzen Zeitspannen, wo er erwas mehr als die Arbeitslosenunterstützung nach Hause brachte.
Die Lage wurde noch zusätzlich erschwert durch seinen ungeheuren Egoismus. Mein Vater war sein ganzes Erwachsenenleben hindurch ein starker Raucher, mehr als zwei Päckchen pro Tag, und er liebte Kaffee. Dieser Bedarf an Luxusartikeln stand nicht ganz im Einklang mit den Einkünften der Familie, die sich viele Jahre lang auf die beeindruckende Summe von vierundvierzig Mark pro Woche beliefen. Genau dieser Betrag war das, was das Arbeitsamt für eine vierköpfige Familie als angemessen ansah. Ich weiß nicht, wie solche Berechnungen zustande kommen, aber das war das offizielle Einkommen unserer Familie meine ganze Jugend hindurch. Gut eine Wochenzahlung ging für die Miete weg, und von den anderen ca. hundertvierzig Mark hätten wir alles andere bestreiten sollen.
Wenn ich Sprüche höre wie »Armut ist keine Schande«, weiß ich, daß das jemand sagt, der wahrscheinlich noch nie mit Armut in Berührung gekommen ist. Was braucht man auch noch die Schande, wenn der Rest schon schlimm genug ist? Ich werde heute sehr wütend, wenn ich höre, wie Flüchtlinge in »echte« und in »Wirtschaftsflüchtlinge« unterteilt werden. Ich finde, Hunger ist ein verdammt guter Grund, um sich nach einem anderen Land umzusehen, und es ist unentschuldbar, daß wir täglich Tausende von Menschen in Entwicklungsländern verhungern lassen. Vielleicht ist es keine Schande, arm zu sein – aber erzählen Sie das mal einer Klasse von Halbwüchsigen, wenn Sie dauernd irgend etwas nicht mitmachen können oder durch die Klassenkasse finanziert werden müssen! Der Wunsch nach einem eigenen Bett für jedes Kind ist ja auch nicht übertrieben, aber er war uns viele Jahre lang verwehrt, denn nachdem wir irgendwann eine Matratze auf Backsteinen für mich organisiert hatten, war meine Schwester längst dem Kinderbett entwachsen, und nun mußte sie das Bett mit meiner Mutter teilen.
Die Probleme mit unserer Armut waren nicht so gravierend in einem Nachkriegsdeutschland, wo die meisten Menschen vor den Trümmern ihrer Existenz standen und diejenigen, denen der Krieg nicht alles geraubt hatte, klug genug waren, ihre Besitztümer nicht zu zeigen – damals kann man wahrscheinlich den Beginn der deutschen Neidkultur orten. Wenn alle arm sind, ist Armut eher zu ertragen. Das Timing unserer Armut war nicht gut: Sie fand gleichzeitig mit dem deutschen Wirtschaftswunder statt! Ohne zu übertreiben: Nach der Währungsreform im Juni 1948 brauchte es schon eine sehr große Willensanstrengung, um arm zu bleiben! Es war die Aufbruchstimmung schlechthin in einem Land, das sich neu erfand. Handwerker waren auf Jahre hinaus ausgebucht und taten einem bereits dazumal schon einen Gefallen, wenn sie überhaupt, geschweige denn termingerecht auftauchten. Gewerbetreibende mußten an- und umbauen, um alle die Waren unterzubringen, die nach Juni 1948 buchstäblich über Nacht aufgetaucht waren. Die Schwarzmarkthändler hatten zwar ihr Betätigungsfeld verloren, aber die Schrotthändler wußten nicht, wohin mit dem Geld. Schrott gab es in Deutschland nun weiß Gott genug, und wenn auch bei weitem nicht jeder Abtransport von einer Trümmerstelle legal war, so waren doch die meisten Hausbesitzer froh, daß sich überhaupt jemand um die Trümmer kümmerte.
Duisburg war nicht nur eine große Binnenhafenstadt, sondern in erster Linie eine Bergwerksstadt. Kohle und Stahl waren zwei der begehrtesten Rohstoffe; Kohleförderung und Stahlbeförderung wurden die Basis des allgemeinen Wohlstands. Alles mußte repariert, erneuert oder ganz neu hergestellt werden, und eine in jeder Beziehung ausgehungerte Nation stürzte sich in die ersten Konsumräusche, die sich, wie wir aus der Rückschau wissen, in Freß-, Reise- oder Einrichtungswelle unterteilen lassen.
Die Eltern meiner Schulkameradinnen waren fast ausschließlich Handwerker und Gewerbetreibende – ich war die mit dem intellektuellen Vater und der intelligenten, urbanen Mutter, aber ohne Schuhe. Unsere Armut warf bei jedem, der damit in Berührung kam, die Frage auf: Wieso ging es dieser Familie so schlecht, wenn es doch allen anderen so gutging?
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