Erinnern Sie sich an die Szene in From Here to Eternity, wenn Frank Sinatra zum zweitenmal ins Militärgefängnis eingeliefert wird und am Ende des langen Ganges Ernest Borgnine, der sadistische Wärter, auf ihn wartet? So ungefähr müssen Sie sich das vorstellen: Nicht alle, aber die meisten Kinder der Klasse standen rechts und links und bildeten die Gasse, durch die ich mußte und an dessen Ende der wütende Koloß stand, mit einem hämischen Grinsen auf dem Gesicht, die Hände in Vorfreude zu Fäusten geballt.
Ich hatte eigentlich keine Chance, aber ich hatte meine Wut. Und was dann passierte, ist ebenso unwahrscheinlich wie das, was ein paar Stunden zuvor geschehen war. Ich rannte durch das Spalier, und ohne richtig nachzudenken – wofür mir ja auch keine Zeit blieb –, schmiß ich meine Schulmappe in die rechte Kinderreihe. Dann stürzte ich mich mit einem Urschrei auf den Koloß, warf ihn zu Boden, schüttelte den massigen Körper wie eine Besessene und schrie – ja was habe ich gesagt? Keine Ahnung mehr, aber es müssen die gesammelten Emotionen des Morgens gewesen sein. Alle waren verblüfft, am meisten die Attackierte, die plötzlich anfing zu heulen und zu jammern. Sie trug einen Flauschmantel, und ich hatte mich in einem der Knopflöcher verfangen, das sich zu einem beträchtlichen Riß erweitert hatte. Vielleicht ahnte sie, daß sie mit diesem erklärungsbedürftigen Kleidungsstück zu Hause Ärger bekommen würde – die Zeiten waren nicht so, daß man einfach hinging und einen neuen Mantel kaufte. Sie hat mich nicht angerührt, sondern stand einfach heulend da mit dem herausgerissenen Knopf in der Hand. Die anderen Mädchen trauten ihren Augen nicht; keine wußte, was jetzt angesagt war. Ich hob meine Mappe auf und war sicher, daß ich diesmal einen sicheren Heimweg haben würde.
Damit war das Drama jedoch noch nicht ausgespielt. Im Zustand höchster Aufregung kam ich nach Hause, wo ich zuerst einmal meine Mutter aufklärte, wie wenig sich mein Vater für die Rolle des unerschrockenen Rächers seiner Tochter eignete, und ihr dann, ziemlich aufgelöst und jetzt auch heulend, berichtete, was sich bei Unterrichtsende zugetragen hatte. Dann kam natürlich der Krach mit meinem Vater, der noch bemerkte, nachdem er meine Geschichte mitgehört hatte, da sähe man ja, wer diese Prügeleien anfinge, und bevor das Ganze eskalieren konnte, klingelte es an der Haustüre. Wir wohnten im vierten Stock, und ich konnte schnell sehen, wer da die Treppen hinaufhastete: Waltraud mit einer Frau, die wohl ihre Mutter war. Ein neuer Showdown bahnte sich an.
Auf dem letzten Treppenabsatz blieben die beiden stehen, denn oben an der Treppe (Sie erinnern sich, wir hatten keine Wohnungstüre, die man vor dieser Frau hätte zuschlagen können) stand die Rachegöttin Nemesis in Gestalt meiner Mutter, mit mir an ihrer Seite. Waltrauds Mutter begann ein Gezeter um den zerrissenen Mantel, dessen Riß sich inzwischen auf mirakulöse Weise noch vergrößert hatte, zerrte ihre Tochter nach vorne, die immer noch diesen blöden Knopf in der Hand hielt und sich auf heulende Unschuld vom Lande verlegt hatte, und verlangte auf der Höhe ihrer Stimme eine völlig absurde Summe Schadenersatz für diesen uralten, zerschlissenen Mantel.
Nachdem sie mal die erste Schreisalve abgespult hatte, war meine Mutter an der Reihe. Auch sie war erregt, aber sie schrie nicht. Verhältnismäßig ruhig erklärte sie, sie sei stolz auf ihre Tochter, die sich zum erstenmal gewehrt habe, und der kaputte Mantel sei nicht mehr als die gerechte Strafe für einen selbstverschuldeten Streit, abgesehen davon, sei er so abgetragen, daß er ohnehin fast auseinanderfiele. Sie dächte nicht im Traum daran, irgendetwas zu zahlen, und dann forderte sie die beiden auf, das Haus zu verlassen. Waltrauds Mutter schrie (inzwischen waren einige Wohnungstüren im Haus auf- und zugegangen, und ich bin sicher, alle Bewohner bekamen irgend etwas von diesem Spektakel mit), daß das mit dem Sichwehren ja wohl umgekehrt sei – ihre Tochter sei von mir angegriffen worden, obwohl auch ihr das etwas komisch vorgekommen sein muß, wenn man die Größenverhältnisse zwischen ihrem Goldkind und mir in Betracht zog. Wie bitte? meinte meine Mutter, drehte mich um und zeigte meine blutunterlaufenen Kniekehlen, wo die Stiefelspuren noch sichtbar waren. »Warst du das?« fragte Waltrauds Mutter ihr Unschuldsengelein, drehte deren Fuß um und sah, daß der Stiefelabsatz dasselbe Muster aufwies. »Davon hast du mir ja gar nichts gesagt!« herrschte sie ihre Tochter an, und wenn sie sich auch nicht gerade bei meiner Mutter entschuldigte, so wiederholte sich die Geschichte meiner Demütigung durch meinen Vater jetzt an der verhaßten Mitschülerin. Zwar drohte die Mutter noch, daß sie Schritte unternehmen würde, um von uns einen neuen Mantel für ihre Tochter zu bekommen, aber das machte meiner Mutter keinen Eindruck: Sie wußte, wo in dieser Situation die Sieger und die Verlierer waren. Waltraud heulte jetzt laut, die Mutter schimpfte ebenso laut, und zusammen traten sie den Rückzug an. Ich hatte an einem einzigen Morgen gleich zwei begnadete Pädagogen in Aktion gesehen!
Natürlich haben wir von der Mutter nichts mehr gehört, obwohl ich öfter von ihr geträumt habe. Mit Waltraud hatte ich nie wieder Probleme. Sie ging mir aus dem Weg. Bei den anderen Kindern hatte sie jede Autorität verloren, und einige bemühten sich jetzt um mich. Aber schon da zeigte sich eine andere meiner ausgeprägten Charaktereigenschaften: Ich habe ein Elefantengedächtnis für erlittene Verletzungen und bin ausgesprochen nachtragend. Diese Kinder hätten sich früher auf mich besinnen sollen; sie waren nicht da, als ich ihre Hilfe hätte gebrauchen können, und jetzt konnte ich auch ohne sie auskommen, zumal ich eine der wenigen war, deren Abschied von der Volksschule programmiert war – das Ende war also absehbar. Und schließlich war ich ja auf der Schule, um etwas zu lernen, und nicht, um Autoritätskämpfe zu bestehen oder Popularitätswettbewerbe zu gewinnen. Lernen war immer noch meine erklärte Lieblingsbeschäftigung.
Ich war gefordert mit dem Stoff der dritten Klasse; inzwischen konnte ich jedoch auch bei den Rechenaufgaben mithalten. Und dann kam die vierte Klasse mit einem wunderbaren Lehrer, der mich voll unterstützte. Gegen Ende dieses Schuljahrs mußte man sich für die Aufnahme am Gymnasium anmelden. Das heißt, zuerst einmal mußte man bestimmen, welche Richtung man einschlagen wollte: Studieren? Dann mußte es das Gymnasium sein. Oder genügte es, eine gutausgebildete höhere Tochter zu sein, die dann wiederum andere höhere Töchter gebären und zu gebildeten Wesen erziehen sollte? Dann war wohl eher das Lyzeum geeignet: Am Ende von dessen ebenfalls neunjährigem Lehrgang stand das »Pudding«-Abitur, so genannt, weil der Lehrplan Handarbeit und Kochen mit einschloß, aber auf Latein und Griechisch verzichtete. Weil mein Vater der Ansicht war, ich würde bei der Mathematik am Gymnasium nicht mithalten können, entschied er, daß es das Lyzeum würde. Kein Wunder, habe ich viele, viele Jahre gebraucht, bevor ich dem Kochen etwas abgewinnen konnte...
Also: Stichtag für meine Anmeldung zur »Höheren Schule« ist der 8. Februar 1948. Solche Sachen erledigte mein Vater, denn die seltenen Momente, wo er sich mit meiner Existenz arrangierte, waren die, wo er mit mir angeben konnte: Als ich eine Klasse übersprungen hatte, wußte das ganze Viertel innerhalb weniger Tage davon. Wenn ich Klassenbeste war, ging er mit mir spazieren und forderte mich auf, jedem, der uns begegnete, meine guten Noten herunterzubeten. Ich bin also am Stichtag für die Anmeldungen acht Jahre alt, vier Tage von meinem neunten Geburtstag entfernt. Sicher eine Art Rekord in der Geschichte der Johanna-Sebus-Schule, mit dem der Rektor dieser höheren Lehranstalt überhaupt nicht umgehen kann.
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