Er sagte das so lieb, halb scheu und auch ein bißchen ungeschickt. Regine sah ihn einen Augenblick voll an. Und da sah sie, daß seine Augen lieb und sehnsüchtig blickten, so gut, so freundlich und besorgt.
Sie gab sich einen Ruck und nahm ihn ganz schnell um den Hals. Er saß so niedrig, es ging ganz gut. Sie merkte, daß er ein bißchen erschrak. Bei ihr ging ja meistens alles so schnell, daß die andern nicht recht mitkamen. Aber das war nur ein Augenblick. Dann schloß er seine Arme um sie und hielt sie vorsichtig und zart an sich gedrückt.
„Kannst du es mir nicht sagen, Regine?“ fragte er nach einer Weile. Er fragte es ganz leise.
„Doch!“ schluckte Regine, ohne sich zu rühren. Wenn nur Mützchen jetzt nicht käme!
Mützchen war schrecklich lieb, aber Zeit hatte sie eigentlich nie für einen. Immer ging alles hopphopp bei ihr. Regine holte tief Luft.
„Onkel Henry, schenk mir fünf Mark! Oder sechs!“ flüsterte sie ganz schnell. So viel ungefähr mußte eine solche Kellerfensterscheibe wohl kosten. Sie wollte ihm gern wiedergeben, was übrigblieb, wenn sie billiger war. Aber das alles ließ sich nicht so schnell erklären. Sie merkte nur, daß er sich ein wenig bewegte. Ob er nun böse war? Sie wagte nicht, ihn anzusehen.
„Hast du einen Wunsch, der so viel kostet? Oder hast du“ – er lachte ganz leise –, „hast du was ausgefressen, Kind? Das kommt ja nicht nur bei Jungen vor. Nun sei mal tapfer, und gib es zu, gar so schlimm wird es ja wohl nicht sein!“
Daß er das sagte! Gerade das! Regine löste die Arme von seinem Hals, bog sich ein wenig zurück und sah ihn nun doch an. Wahrhaftig, seine stahlblauen, früher herrischen Augen lachten. Sie lachten herzlich und lustig.
„Ich war doch auch einmal ein Junge, der uneingestandene Dummheiten mit sich herumtrug. Also heraus damit! Was zerschmissen und nicht gebeichtet. Ich dachte mir’s doch.“
„Onkel Henry, du bist – du bist...“ Regine lachte und schluchzte gleichzeitig, und dann erfuhr der Onkel die ganze Geschichte, die noch niemand wußte. Sie kam zutage, durcheinander wie Kraut und Rüben, die Scheibe und der Ausflug und Hannesles Krankheit und daß es am ersten Tag eben nicht ging, sofort zu beichten, und daß es nachher so viel, viel schwerer war und eigentlich überhaupt zu spät. Der Onkel hörte sich alles an und klopfte ihr dann die Backe.
„So. Na, das hätten wir! Die Scheibe, Regine – oder Regele, so heißt du wohl bei denen, die dich liebhaben –, also die Scheibe übernehme ich. Einverstanden? Gut. War es das? Wirklich? Sonst nichts?“
„Sonst nichts, Onkel Henry“, sagte Regine und seufzte tief auf. Ach, wie gut das tat, wenn man es endlich von der Seele herunter hatte! „Sonst ist es so schön hier!“
„Das glaube ich.“ Auch er seufzte ein wenig, aber anders als sie. „Und so was Schönes habe ich eben nicht für dich. Geschwister, das Wichtigste für ein Kind, kann ich dir nicht geben – tja, da war es also nichts mit meinem Traum.“
„Bist du sehr traurig? Aber wenn ich vom Hannesle weg müßte...“
„Und von den andern auch. Ich glaube es dir. Verstehst du dich auch mit den großen Jungen so gut?“
„Sehr. Sie sind ja nur wenig zu Hause, deshalb freuen wir uns alle so sehr auf die Ferien. Sie fahren in der Schulzeit am Morgen so zeitig fort und kommen erst um halb drei Uhr wieder, manchmal noch später.“ Regine, das Herz vom schlimmsten Kummer befreit, begann zu erzählen und zu schildern. Sie merkte gar nicht, daß sie auf der Seitenlehne des Stuhles saß, in dem der Onkel lehnte, und daß er noch immer den Arm um sie gelegt hatte, fest und gut.
Mützchen kam so bald nicht wieder. Vielleicht hatte sie in der Küche wieder einmal etwas verschusselt, fand den Kaffee nicht oder hatte die Milch verschüttet.
Nein, Mützchen hatte nichts verschusselt. Mützchen hatte sogar einmal zur Tür hereingesehen, diese dann aber wieder zugezogen, ganz sachte und langsam. Und nun saß sie in der Küche neben dem fertigen Kaffee am Herd, die Hände im Schoß, und wartete.
Sie wartete lange, fast eine Stunde, und ihr Herz war schwer. Sie hatte gedacht, man brauche ein fremdes Kind nur herzlich liebzuhaben, und alles gehe gut. Aber das genügte nicht, wie es sich herausgestellt hatte. Und sie wußte auch, warum es nicht genügte. Man muß sich auch Zeit für ein Kind nehmen.
Und das hatte sie nicht getan. Und nun war es so gekommen. Sie hatte wohl gemerkt, daß Regine einen Kummer haben mußte, aber sie hatte immer gedacht: Das wird schon vorbeigehen. Nun erzählte das Kind diesen Kummer einem andern. Der, dem ein Kind seinen Kummer erzählt, der ist ihm der Nächste auf der Welt.
Mützchen war sehr betrübt. Sie wünschte Regine von Herzen alles Gute. Bei Onkel Henry würde sie es schön haben, daran war kein Zweifel. Mützchen wünschte sich aber auch sehr, Regine bei sich behalten zu können. Sie selbst hatte ja keine kleine Tochter und hatte sich so sehr eine gewünscht. Nun hatte sie gedacht, das Leben habe ihr Regine geschenkt, um sie dafür zu entschädigen, daß es ihr diesen Wunsch versagte.
Freilich, Onkel Henry konnte ihr mehr bieten, sie auf die besten Schulen schicken, und so früh aufzustehen brauchte sie auch nicht. Trotzdem, ach, trotzdem!
Mützchen fühlte, wie ihr ganz schnell ein paar Tränen über das Gesicht liefen. Sie wischte sie ab. In diesem Augenblick ging drüben die Tür. Und gleich darauf brachen Onkel Henry und Regine bei ihr in die Küche ein.
„Gibt es denn gar keinen Kaffee heute, Mützchen? Wir verdursten!“
„Wir“, sagten sie und strahlten beide. Strahlten so...
„Natürlich! Seid nicht böse!“
Mützchen nahm rasch und ein wenig übereifrig die Mütze von der Kaffeekanne. Vielleicht hatte sie sich auch die Augen nicht gut ausgewischt – hoppla –, Onkel Henry fing die Kanne gerade noch auf. Ach ja, Tempo, ihr alter Fehler!
Onkel Hannes gab noch Unterricht, er würde später kommen. So setzten sie sich zunächst zu dritt an den sommerlichen Kaffeetisch in der Laube. Mützchen goß ein.
Regine war dicht am Platzen, man sah es ihr an. Sie mußte heraus damit.
„Nun sag’s schon“, lächelte Onkel Henry, als die Tassen gefüllt waren, „du kannst es ja doch nicht abwarten.“
„Mützchen, wir haben uns was Herrliches ausgedacht! Was Herrliches, Mützchen!“ sprudelte Regine. Mützchen versuchte, ihr zuzulächeln.
„Was denn? Nun erzähle doch!“
„Also, weil Onkel Henry doch immer so allein ist und gar keine Kinder hat und weil – ja, und die Jungen haben es so weit, und Klavierstunde könnten sie dort auch haben, Onkel hat einen Flügel und kennt auch einen feinen Klavierlehrer. Und sie wären auch zu zweit, da kriegt man nicht so leicht Heimweh. Und alle Ferien wären sie natürlich hier und manchmal auch sonntags, weil der Onkel doch einen Wagen hat. Und die Jungensschulen sind dort gut, sagt Onkel Henry...“
„Die Jungen? Was haben denn die Jungen damit zu tun?“ fragte Mützchen. Sie hielt das Milchkännchen noch in der Hand über ihrer Tasse.
„Ja, natürlich die Jungen! Weil ich doch nicht weg will von hier! Von Hannesle und von euch! Und ich brauche doch auch keine höhere Schule. Aber die Jungen sind doch auch schon größer, und einmal gehen sie sowieso fort von zu Hause. Und es wäre doch herrlich für sie.“
„So. Darf ich einmal...“ Onkel Henry nahm Mützchen behutsam die Milchkanne aus der Hand. Die Tasse lief schon ein ganzes Weilchen über, er hatte es aber auch eben erst gesehen.
Mützchen guckte darauf und mußte lachen, und dann lachten sie alle drei. Lachten und schütteten das Übergelaufene in den Kies des Gartenweges und tranken erst allesamt einmal einen Schluck Kaffee. Und dann wurde richtig erzählt, der Reihe nach.
Onkel Henry nahm die Sache in die Hand und fädelte sie richtig ein, von der kaputten Scheibe angefangen bis zu dem Augenblick, in dem Regine den guten Gedanken fand.
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