Ich dachte, der normale Alltag könnte nach meiner ersten Entlassung bald wieder beginnen. Wie sehr hatte ich mich da getäuscht! Ich war unbeholfen, unsicher, konnte nicht alleine sein, weil ich nichts mit mir anfangen konnte. Wenn ich singen wollte, kamen falsche Töne heraus, und ich war in allem ziemlich ungeschickt. Ich konnte nicht weinen und wenn ich lachte, klang es unnatürlich. Ich hatte das Gefühl, mein Lachen war wie ein Krampf, den ich nicht kontrollieren konnte. Auch über meinen Speichel hatte ich keine Kontrolle und beim Essen musste ich ganz vorsichtig sein, damit ich mich nicht verschluckte. Meine Speiseröhre schien durch die Medikamente verengt zu sein. Besonders schlimm waren meine Konzentrationsschwierigkeiten, weil ich deshalb nicht lesen konnte. Wie sollte ich da wieder in die Schule gehen? Am liebsten kroch ich zu meiner Mutter ins Bett wie ein kleines Kind. Meine Sprache war oft undeutlich und man konnte mich schlecht verstehen. Ich wollte gern wieder in die Schule gehen. Ich sehnte mich nach meinen Klassenkameradinnen, die mir ein Päckchen mit Weihnachtsgebäck in die Klinik geschickt hatten.
Aufgrund der Konzentrationsstörungen blieb ich zu Hause, half manchmal meiner Mutter im Haushalt oder war im Uhrengeschäft meiner Eltern. Mein Vater ist Uhrmacher und betrieb ein Uhren- und Schmuckgeschäft, in dem es manchmal Geldsorgen gab. Diese Nöte meiner Eltern betrafen auch mich und ihre Probleme waren auch meine. Heimlich steckte ich ihnen Geld zu, wenn Rechnungen zu bezahlen waren. Meine Schwester, die zwei Jahre älter ist als ich, war bereits ausgezogen. Nach dem vielen Streiten in der Kinderzeit waren wir Freundinnen geworden. Sie ist ruhiger als ich, ich galt immer als die Unkomplizierte, Aufgeweckte. Schon als kleines Mädchen war ich schlagfertig und ging gern in die Schule, weil da immer etwas los war. Mit den anderen Mädchen reden und Spaß haben, das gefiel mir.
In der Schule hatte ich vor allem mit Mathematik Schwierigkeiten. Ich saß im Unterricht oft da, schaute in die Luft und verstand nichts. Ich konnte das, was mir zufiel, zum Beispiel im Deutschunterricht mich in andere Menschen hineindenken. Mir etwas zu erarbeiten, das war schwer. Handarbeiten machte ich gern, aber ich war oft nicht so geschickt, was mich nie davon abhielt, zu stricken, zu sticken oder zu häkeln. Als ich in das Gymnasium in unserer Stadt kam, hörte eine schöne Zeit meiner Schulzeit auf. Die ersten vier Jahre in der kleinen Waldschule, so hieß unsere Grundschule, waren schön gewesen, ein netter, verständnisvoller Lehrer, alles war überschaubar. Ich hütete ab und zu die Kinder meines Lehrers und verkleidete mich im Dezember als Nikolaus – mit großem Erfolg. Im nächsten Jahr kam ich auf »Bestellung« meines Lehrers. War das der Grund für einigermaßen gute Noten, gut genug fürs Gymnasium?
Ich fühlte mich verloren in dieser riesigen Schule. Meine Mutter dachte, ich sei zu faul für Latein und so kam ich in den mathematischen Zweig. Die Lehrer machten uns bald klar, dass wir zu viele Schüler wären, sie wollten »ausdünnen«.
Ich war ungefähr acht Jahre alt, als ich beschloss, ich wollte mein Herz dem Heiland schenken. So drückte man das damals aus. Schon vor dieser Zeit hatte ich gebetet, wenn ich abends im Bett lag. Der Glaube an Gott war mir etwas Selbstverständliches, er gehörte einfach zu meinem Leben dazu. In der Gemeinschaft, in die meine Eltern damals noch gingen, gab es allerdings viel moralischen Druck, was mir ziemlich zu schaffen machte. »Jesus kommt wieder – sind wir bereit?« Das machte mir Angst, es war so etwas Unverhofftes, was plötzlich in mein Leben hineinbrechen konnte. Trotzdem hatte ich eine Ahnung in mir von einem liebenden Gott, der mich so annahm, wie ich war. Ich hatte nie aufgehört, an Gott zu glauben und zu beten, selbst in den schweren Zeiten meines Lebens.
In Notizen, die ich in meiner so genannten »Stillen Zeit« aufgeschrieben habe, sehe ich, mit welchen Gedanken ich mich im Alter von fünfzehn Jahren beschäftigt habe. Ich gab mir selbst Befehle: Regelmäßig »Stille Zeit« machen. Wenn ich Gott liebe, hänge ich mich nicht an andere Dinge, an die Welt, weil ich von ihm und seiner Liebe ausgefüllt bin. Seine Liebe führt zu Taten und eigentlich hat man da gar keine Zeit, an sich zu denken und sich um weltliche Dinge zu kümmern ... Sorgen ist verkehrt, wenn wir unabhängig von der Welt sind. Wir sollten fest sein, wenn andere uns nicht verstehen ... Wenn das Ich auf dem Thron sitzt, regiert Jesus nicht ... Du bist gewillt mir nachzufolgen, aber bist du auch gewillt, ein unbequemes Leben zu führen? Bist du bereit, die Sicherheit deines Heims zu opfern? Unsere Verwandten sollen uns nie wichtiger sein als Jesus. Jesus ruft sofort in den Dienst. Ich brauche Leute, die mich ganz bewusst auf Fehler und Schwierigkeiten an meinem Wesen stoßen. Ich brauche seine Liebe intensiv, dass ich mein Ego bekämpfen kann. Christ sein heißt herauszutreten und die Schmach Christi zu tragen ...
Ich klagte mich selbst an wegen meines Verhaltens. Ich rüttelte mich selbst immer wieder auf zu einem »geistlichen« Lebensstil. Ich fühlte mich verantwortlich für andere, wollte ihnen seelsorgerlich helfen, für sie beten. Ich nahm mir vor, über Bibelversen zu meditieren. Ich wollte funktionieren, alles erfüllen, was mir (von wem?) aufgetragen war. Ich wollte Jesus ganz nachfolgen. Es war mir wichtig, anderen zu helfen, die Probleme von Freundinnen im Blick zu haben. Ich war bereit, Gottes Strafe zu erdulden, wenn ich es nötig hatte.
Heute fällt mir die Absolutheit und Ernsthaftigkeit auf, mit der ich mich mit dem Glauben beschäftigte. Ich freute mich nicht einfach – schließlich war ich erst fünfzehn Jahre alt –, dass ich an Gott glauben konnte, dass Jesus mich liebt. Ich machte mir selbst Druck, spornte mich an und genügte nie wirklich dem geistlichen Bild, das mir vorschwebte. Ich saugte alles, was mit dem Glauben zu tun hatte, in mich auf, wollte es behalten und anwenden für mein Leben. Ich war schlecht, Gott konnte etwas Gutes aus mir machen. Ich beschäftigte mich mit den geistlichen Dingen und sah alles durch diese »Brille« des Glaubens. Wer hatte mir das nur alles eingeredet?! Ich war doch eigentlich ein fröhliches, lebenslustiges Mädchen. Die Gedanken, die ich in meinen Notizen von damals fand, konnten nicht nur von mir stammen. Warum hatte ich das alles so aufgesogen und mir selbst diesen Druck gemacht?
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