Gisela wußte, wo Fred Liebermann wohnte, aber sie wollte ihr Glück zuerst mal an seinem Stammplatz im ›Café Schenk ‹ am Marktplatz versuchen. Tatsächlich fand sie ihn inmitten seiner Clique im verrauchten Billardzimmer.
Man begrüßte sie mit großem Hallo, denn es waten mehr Jungen als Mädchen anwesend, einer packte sie sogar beim Handgelenk und versuchte, sie auf seinen Schoß zu ziehen, aber sie setzte sich humorvoll, aber entschieden zur Wehr.
»Ich wollte bloß fragen, ob einer von euch mich zum Bahnhof fährt«, sagte sie, »nein, du nicht, Bobby, du bist mir zu verwegen. Wie wär’s mit dir, Fred? Ich hab’s wirklich rasend eilig.«
»Na schön!« Fred erhob sich, ein langer, magerer junger Mann mit einem mürrischen Gesicht. »Aber ich meine, du könntest dir auch ein Taxi leisten.«
Sie ging auf diese berechtigte Vorhaltung nicht ein, denn es kam ihr ja nur darauf an, ihn von den anderen weg und ins Freie zu lotsen.
Als er hinter ihr auf den dunklen Parkplatz trat, kam sie sofort zur Sache. »Du kennst doch Ulrike Simons?«
»Na und?«
»Nur so. Seit wann hast du mit ihr Schluß gemacht?«
»Geht dich das was an?«
»Du hast also mit ihr Schluß gemacht.«
»Ist das etwa verboten?«
»Natürlich nicht. Es würde mich nur interessieren, warum.«
»Geht dich einen Dreck an.«
»Ich habe einen Grund, dich zu fragen, Fred, einen sehr wichtigen Grund.«
»Frag sie doch selber.«
»Das habe ich getan, und es kommt mir eben darauf an, ob du ihre Geschichte bestätigen kannst. Komischerweise ist ja hier in der Stadt nicht darüber geredet worden. Komisch, wenn es wahr ist, meine ich.«
»Woher soll ich das wissen? Ich hab’ ja nicht dabeigestanden.«
»Aber sie hat es dir gesagt? Gleich damals, als es passiert ist?«
»Kann schon sein.«
Gisela, die die Art der einheimischen Jungen kannte, nahm es als Bestätigung. »Und das hast du zum Anlaß genommen, sie stehenzulassen? Warum?«
»Warum? Warum?« äffte er. »Mich hat sie zappeln lassen, und von so ’nem Kerl läßt sie sich gleich aufs Kreuz legen!«
»Aber er hat sie gezwungen!«
»Das ist mir eins.«
»Fred!« Gisela packte den großen Jungen bei den Schultern und schüttelte ihn. »Ist dir eigentlich nie die Idee gekommen, daß du selber schuld warst? Ja, ja du! Hättest du sie, wie es sich gehört, nach Hause gebracht, hättest du dich wenigstens drum gekümmert, wie sie zurück kam …« Sie ließ ihn los. »Ach, warum erzähl ich dir das überhaupt! Wenn du zu blöd bist, selber darauf zu kommen, dann ist an dir ja sowieso Hopfen und Malz verloren.« Sie wandte sich ab und ging davon.
»He!« rief er ihr nach. »Ich dachte, du wolltest zum Bahnhof!«
»Jetzt nicht mehr«, behauptete sie und machte, daß sie davonkam.
Bei der morgendlichen Visite in der Klinik Professor Hartmann hatte Gisela keine Gelegenheit, mit Dr. Burg zu reden, und danach mußte sie sich wie immer beeilen, um vor ihm in der Praxis zu sein.
»Sie können die erste Patientin hereinholen«, sagte er, noch während er sich seinen frischen weißen Kittel zuknöpfte.
Aber ausnahmsweise folgte Gisela diesmal nicht. »Ich habe mit Fred gesprochen«, berichtete sie und blieb stehen.
»Mit wem?«
»Fred Liebermann. Ulrikes Freund. Der, der sie vor ein paar Wochen hat stehenlassen. Wegen der Vergewaltigung.«
»Na und?«
»Er hat es bestätigt. Sie hat es ihm seinerzeit tatsächlich brühwarm berichtet. Es ist also wahr.«
»Daran habe ich gar nicht gezweifelt. Mir schien das Mädchen durchaus glaubwürdig.«
»Aber dann …«
Er lehnte sich mit dem Rücken gegen den Schreibtisch. »Ich werde die Kürettage vornehmen, Gisela. Und Sie werden mir dabei assistieren!«
Gisela erschrak, faßte sich aber sogleich wieder. Sie begriff, warum Dr. Burg die Abtreibung nicht in der Klinik vornehmen wollte, denn sie kannte die mehr als konservativen Grundsätze Professor Hartmanns. Hier in der Praxis aber war er auf ihre Hilfe angewiesen, und sie konnte ihn nicht im Stich lassen.
»Ja, Herr Doktor«, sagte sie gefaßt.
Es war ihr, als läse sie Anerkennung in dem eindringlichen Blick seiner blauen Augen. »Danke. Würden Sie jetzt bitte …«
Gisela wich nicht von der Stelle. »Ich habe noch eine Frage, Herr Doktor.«
»Ja?«
»Warum wollen Sie es jetzt doch tun, nachdem Sie gestern noch so dagegen waren?«
»Weil es falsch wäre, von einem Mädchen, dem Gewalt angetan worden ist, zu verlangen, daß sie die ungewollte Frucht eines ungeliebten Mannes austrägt. Mit dieser Meinung stehe ich nicht allein, darüber sind sich alle Experten einig.« Er machte eine kleine Pause, aber Gisela spürte, daß er noch weiterreden wollte.
Ihr Blick hing an seinen Lippen.
»Und dann, Ulrike scheint mir gerade der Typ Mädchen zu sein, der imstande ist, etwas sehr Unvernünftiges zu tun.«
»Selbstmord?« fragte sie.
»Vielleicht. Wahrscheinlicher aber würde sie versuchen, die Frucht selber abzutreiben, und Sie wissen, wie gefährlich das ist. Schon allzu viele Frauen sind bei solchen Versuchen verblutet oder haben sich so verletzt, daß sie nie wieder Kinder bekommen können. Nein, das können wir nicht riskieren. Ich bin meinem Gewissen verantwortlich.«
Gisela begriff, daß es ihn einen schweren Kampf gekostet hatte, und er stieg dadurch noch höher in ihrer Achtung.
Als Ulrike am Nachmittag erschien, hatte Gisela schon alles für die Operation vorbereitet. Dr. Burg hatte sich auch vergewissert, daß eines seiner Klinikbetten frei war, denn die Patientin mußte zwei bis vier Tage nach dem Eingriff fest liegen.
Gisela nahm Ulrike erst an die Reihe, als das Wartezimmer sich geleert hatte. Sie schloß ab und legte den Arm um die Schulter der Jüngeren. »Tut mir leid, daß es so lange gedauert hat. Komm!«
Ulrike war sehr blaß. »Wird der Doktor mir helfen?« fragte sie. »Wenn nicht, bin ich verloren. Ich könnt’s nicht überleben, glaub mir. Bei dem bloßen Gedanken werde ich wahnsinnig!«
Dr. Burg hatte die Tür zum Sprechzimmer weit geöffnet und winkte den Mädchen, sich zu beeilen. »Keine Sorge, Ulrike, wir bringen die Sache in Ordnung. Hier in der Praxis.«
»Wirklich? Das wollen Sie tun? Sie ahnen ja nicht …«
»Doch. Jetzt keine künstliche Aufregung, Ulrike, Sie werden bestimmt nichts spüren.«
»Haben Sie ein Absauggerät?«
»Nein. Sie sollten schon gemerkt haben, daß wir auf solche Fälle nicht eingestellt sind. Ganz davon abgesehen, ist das Absaugen nicht so harmlos, wie es von Laien gern geschildert wird. Es besteht die Gefahr, daß die Placenta, also der Mutterkuchen, von dem das Kind im Mutterleib lebt, nicht hundertprozentig entfernt wird. Ein winziger Rest genügt aber schon, um einen sehr bösartigen Krebs entstehen zu lassen, den sogenannten Zottenkrebs.«
Die Mädchen schauderten.
»Nur keine Sorge«, sagte Dr. Burg, »das kann bei einer instrumentalen Ausschabung, wenn sie sorgfältig durchgeführt wird, nicht passieren. Mut, Ulrike!«
»Kann ich nachher gleich nach Hause?«
»Nein, Sie kommen für ein paar Tage in die Klinik.«
»Aber dann müßte ich doch noch Bescheid sagen.«
»Nein, Ulrike«, erklärte Gisela, »das mache ich. Wenn alles vorbei ist. Damit wir keine überflüssigen Schwierigkeiten haben, werden wir so tun, als ob wir unmittelbar zum Eingriff gezwungen worden wären. Solche Fälle gibt’s nämlich.«
Ulrikes helle blaue Augen standen weit aufgerissen in dem weißen Gesicht. »Was wird mein Vater dazu sagen?«
»Wenn du es ihm nicht erzählst, wird er es nie erfahren!«
»Ulrike«, sagte Dr. Burg, »Sie können es sich noch einmal überlegen. Es kann ein sehr liebenswertes Kind werden, auch wenn Sie es nicht gewollt haben. Sie sind jung, Sie sind gesund, ich würde mit Ihrem Vater reden.«
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