1 ...6 7 8 10 11 12 ...18 „Auch ich nicht.“ Sie nahm ihn um den Hals und gab ihm einen Kuß; im letzten Augenblick allerdings erschrak sie doch über ihre Kühnheit und bog ab, so daß sie immerhin nur die Backe traf. Aber sie war so froh.
„Immer weiter, bedien dich, bitte!“ sagte er lachend. Sie wurde rot.
„Das könnte dir so passen! Du, ich bin doch sehr beruhigt, da kann ich mich doch kümmern, bis der Kindergarten wieder aufgemacht Wird. Wie lange dauert denn Scharlach heute? Nicht mehr sechs Wochen oder acht wie früher, oder?“
„Da mußt du Helga fragen, wozu haben wir denn eine Medizinerin im Haus. Da kommt sie übrigens grade – wie ist das, unternehmen wir heute was? So eine Lebensrettung dreier Kinder müßte eigentlich gefeiert werden!“
Ulrich erwachte, als es schellte. Er hörte den Briefkastendeckel zufallen und etwas auf die Erde rascheln. Sollte er aufstehen? Zu oft war er enttäuscht worden. Diese blöde Warterei!
Einmal mußte der Verlag ja antworten. Und er hatte sich fest vorgenommen, dann mit Helga zu sprechen, nicht von „verloben“ oder so was, aber es sollte klar und deutlich feststehen: Wir gehören zusammen. Deshalb...
Mit einem Ruck, sich selbst überrumpelnd, warf er das Deckbett ab und lief hinaus. Fischte auf der Erde – dußlige Reklame, weiter nichts – und drehte sich wieder um. Da sah er noch was liegen, kleiner als ein Brief, hob es auf, ohne Hoffnung und Spannung. Gleich darauf schrie er laut, so daß Leo kerzengerade aus dem Bett auffuhr, wie der Teufel aus dem Kasten. „Was ist denn los?“
„Hier, ich soll anrufen. Die Nummer vom Verlag!“ rief Ulrich. „Also, wenn sie ihn nicht nähmen, hätten sie ihn zurückgeschickt. Paß auf, jetzt klappt es! Das kommt davon, daß wir kein Telefon haben! Schriftsteller ohne Telefon, unmöglich!“
„Schriftsteller“, sagte Leo. Er hatte sich wieder ins Bett verkrochen und sah dem wild herumfuchtelnden Bruder zu. „Schriftsteller. Im Schlafanzug, der noch aus der Zeit Ottos des Heizbaren stammt, mit Stachelbeerbeinen, unrasiert – was sage ich, ungewaschen sogar, ungekämmt: Schriftsteller, Klassiker. Wunderbar.“
„Lästere nur“, japste Ulrich, während er hin und her fuhr, nach den Schuhen unterm Bett angelte und sich in der Schlafanzugjacke verfilzte, die er unaufgeknöpft über den Kopf zu ziehen versuchte. „Es hat mancher schon in einer Dachstube gehungert, der später groß und berühmt wurde.“
„Dachstube. Gehungert. Weder – noch. Aber ich sage dir: So wie mein holder Bruder sieht ein von der Muse Geküßter nicht aus.“
„Idiot. Von mir aus kannst du...“ Die Tür flog hinter ihm zu. Leo räkelte sich behaglich im Bett zurecht. Wahrscheinlich wieder blinder Alarm. Aber er irrte. Nach geraumer Zeit tobte Ulrich die Treppe herauf, läutete bei den beiden Mädchen und trommelte dann an die Glastür, als sie nicht gleich geöffnet wurde, schrie und tanzte und benahm sich wie ein Verrückter. Leo hörte, daß jemand kam und öffnete, wahrscheinlich Josi, denn es erhob sich gleich ein neues Indianergeheul. Helga würde nie so brüllen, dachte er. Angenommen also. Na schön.
Jawohl, angenommen!
Helga wurde es durch die geschlossene Tür zugeschrien, Frau Fleischhack bekam es vorgesetzt, kaum daß sie den Schlüssel ins Schloß gesteckt hatte. Ulrich und Josi waren sehr erstaunt, daß Leo gar nicht überrascht war.
„Woher weißt du es denn?“
„Ich bin doch nicht taub“, sagte er trocken. „Wieviel zahlen sie denn?“
„Na, ich hab’ doch nicht gleich durchs Telefon gefragt, du hast auch gar keine Lebensart.“ Ulrich war entrüstet. „Damals sagte er, ein Fortsetzungsroman in den Monatsheften brächte, je nach Länge, etwa zweitausend Mark. Ich soll morgen in den Verlag kommen und alles mit ihm besprechen.“
„So. Na, für so viel Geld kann man auch etwas brüllen“, sagte Leo. „Gibst du jetzt einen aus?“
„Klar! Kinder, wir müssen feiern, daß die Wände wackeln“, rief Ulrich, „heute abend schon. Was wollt ihr – Theater oder ganz fein essen oder Kabarett oder was sonst?“
„Keins davon. Wir machen endlich einen richtigen Fasching mit, finde ich. Seit Wochen karnevalt es um uns herum, und wir waren noch nirgends dabei. Was meint ihr?“
„Da weiß ich etwas Phänomenales“, rief Ulrich, die andern überschreiend, „wir gehen zum Fest der Damischen Ritter. In den Löwenbräu. Das gibt’s nur hier und heute!“
„Du bist bekloppt – da kriegt man doch keine Karten mehr! Die waren alle schon vor vierzehn Tagen weg“, sagte Leo. „Ich wollte so gern hin, das ist nämlich ganz groß. Man kann anziehen, was man will, und wie es ausgestattet ist! Und keine Polizeistunde, glaub’ ich...“
„Wo gibt’s keine Polizeistunde?“ fragte Helga. Sie war eben hereingekommen, schon fertig zum Ausgehen. Leo saß noch im Bademantel auf seinem Bett, und Josi trug den Wintermantel über dem Schlafanzug. Es sah jetzt schon wie Fasching aus.
„Bei den Damischen Rittern. Gehst du mit? Wir müssen hin, ich mach’ es möglich, paßt mal auf. Ich kenn’ ein paar Leute.“
„Also, wenn du das fertigbringst...“
„Ich bringe es fertig, heute!“ Ulrich war wie ausgetauscht, man konnte ihm tatsächlich zutrauen, daß er in seinem Siegestaumel Bäume entwurzelte. Helga sah ihn nachdenklich, Josi hingerissen an. Leo lachte vergnügt.
„Also gut. Mach es möglich. Das wär’ was!“
„Erkennt man auch wirklich, was ich sein soll?“ fragte Josi und drehte sich vor dem kleinen Spiegel, den sie im richtigen Neigungswinkel auf den Stuhl gebaut hatte. Einen großen Spiegel, in dem man sich ganz bewundern konnte, besaßen sie nicht. Sie trug ein kurzes Höschen zu einem feuerroten Wams, halbhohe rote Stiefel (geborgte) und auf dem Kopf ein paar Mephistohörner. Das Ganze sollte den Puck aus dem Sommernachtstraum darstellen, wirkte aber eher wie ein noch nicht ganz erwachsener Waldschrat, der sich in eine Großstadt verlaufen hat.
„Niemand fragt dich danach. Hauptsache, es steht dir“, sagte Leo und befestigte den Colt an seiner Hüfte. Ulrich war schon fertig, als Forscher mit Tropenhelm und umgehängtem Fernglas zu Jeans und weißem Sporthemd. Er wirkte schlank und jung in diesem Aufzug und weit unternehmungslustiger, als ihm zumute war. Denn Karten hatte er natürlich nicht mehr gekriegt.
„Aber wir kommen hinein“, versicherte er zum dreißigstenmal, eher seine eigenen Bedenken überredend als die der andern, „ich habe...“ Keiner hörte zu.
Helga besaß als einzige ein richtiges Kostüm, Biedermeier, es stand ihr entzückend. Ulrich wurde ganz heiß bei dem Gedanken, womöglich doch umkehren zu müssen. „Los, seid ihr noch nicht fertig? Das Taxi muß gleich dasein.“
„Josi, man friert, wenn man dich ansieht!“
„Dann guck doch weg!“
„Nehmt ihr Geld mit?“
„Klar, etwas.“
„Ich denke, Ulrich kommt für alles auf?“
„Trotzdem: Sicher ist sicher.“
Sie liefen hinunter, eben bremste das Taxi am Bordstein. Es war bitter kalt, sie gingen ohne Mäntel, Josi kuschelte sich an Leo. „Löwenbräu!“ rief Ulrich dem Fahrer zu.
„Wohin denn sonst?“ schmunzelte der und wendete. Die Straßenlampen blinkten trüb durch den Frostnebel, es war gegen neun, eigentlich zu zeitig für das geplante Unternehmen. Das letzte Stück gingen sie zu Fuß, Josi hopste, um sich zu erwärmen.
Rechts und links vom Eingang standen Schaulustige, die sich am Einzug der Gäste ergötzten. Besonders schöne Kostüme lösten ein „Ah!“ und „Oh!“ aus. „Los, kommt!“ befahl Ulrich, gleich darauf erspähte er seinen Bekannten, der in gestreifter Sträflingskleidung mit einer großen Dreiunddreißig auf dem Rücken etwas abseits stand. Er bahnte sich den Weg zu ihm hin. „Na?“
„Hier. Vier Stück. Sie sind schon entwertet. Ihr müßt bei der Kontrolle sagen, ihr hättet nur die Pelze noch ins Auto gebracht. Pelze, nicht Mäntel, das klingt vornehmer.“
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