Der neunte Band — Bomba am Ende einer Spur — führt den Dschungelboy endlich an das Ziel seiner Wünsche. Andrew Bartow, sein Vater, ist noch einmal in den Dschungel aufgebrochen, um seinen seit Jahren vermissten Sohn Bonny zu suchen. Durch Zufall gerät Bomba auf die Fährte der Suchenden, und er kann seinen Vater aus einer gefahrvollen Situation retten. Nach einem gefährlichen Kampf mit Kopfjägern ist es endlich so weit: Vater und Sohn sinken einander in die Arme. Auch Bombas Mutter kommt in einem Flugzeug und kann nach so vielen Jahren des Kummers und der bangen Hoffnung ihren Sohn an sich drücken. Doch jetzt heißt es für Bomba Abschied nehmen von seiner Dschungelheimat. Wird er sich in den Straßenschluchten von New York wohl fühlen? Wird trotz der Liebe zu seinen Eltern nicht die Lockung des Urwaldes zu groß für ihn sein? Die Abenteuer in der fremden Umgebung erleben wir mit Bomba im vorliegenden Band.
1 In einem Großstadt-Dschungel
Der Geschäftsführer in dem großen Fifth-Avenue-Hotel trat unwillkürlich einen Schritt zur Seite, als ein junger Mann in guter Kleidung, aber von unverkennbar indianischer Abstammung in dem eigentümlich federnden Laufschritt der Dschungelbewohner auf ihn zu kam und an ihm vorbei die Treppe zum ersten Stockwerk emporeilte.
„Wie ein Amokläufer“, murmelte der Geschäftsführer stirnrunzelnd und strich mit einer nervösen Geste über die Seidenrevers seines Smokings.
Inzwischen hatte der ‚Amokläufer‘ den langen Gang des ersten Stockwerkes erreicht und eilte auf dem weichen Teppich weiter. Zuerst war es für Gibo, den jungen Indianer aus dem Amazonas-Dschungel, sehr schwer gewesen, aus der verwirrenden Fülle von Türen jene herauszufinden, die zu dem von Bomba und ihm bewohnten Appartement in dem vornehmen Hotel führte. Aber Bombas Eltern, die auf den inständigen Wunsch ihres Sohnes hin dessen getreuen Dschungelgefährten Gibo mit nach New York genommen hatten, waren auch bereit gewesen, die Erziehung des jungen Indianers zu übernehmen. So war aus dem Urwaldbewohner vom Stamme der Araos ein modisch gekleideter junger Mann geworden, der einigermaßen gut Englisch schreiben und lesen konnte und auch die Grundbegriffe des Rechnens beherrschte.
Zielbewusst stürmte Gibo jetzt auf Zimmer Nr. 80 zu, riss die Tür auf und stürzte hinein.
„Stell dir vor, Herr!“ rief er mit allen Zeichen freudiger Erregung. „Ich habe einen Dschungel gefunden! Es gibt einen Dschungel mit wilden Tieren in New York! Soll ich ihn dir zeigen?“
Bomba wandte sich schnell vom Fenster ab und lächelte ungläubig.
„Was hast du jetzt wieder gesehen, Gibo?“, fragte er mit gutmütigem Spott. „Neulich hast du mir erzählen wollen, die Untergrundbahn sei eine Riesenschlange mit Feueraugen, die durch eine Höhle kriecht und dabei ein schreckliches Geräusch macht. Weißt du das noch?“
„Damals war ich noch sehr dumm“, sagte Gibo kleinlaut. „Du darfst nicht vergessen, Herr, für mich war das alles ganz neu.“
„Und für mich etwa nicht?“, fragte Bomba zurück.
„Du bist ein Herr“, murmelte Gibo mit jener Ehrfurcht, die er seinem jungen Gebieter gegenüber auch in der neuen Umgebung nicht abgelegt hatte. „Du weißt alles und du findest dich überall zurecht. Aber ich habe viel lernen müssen, und das Neue hat mich sehr verwirrt.“
„Das merke ich“, sagte Bomba mit einem Anflug von Trauer in der Stimme. „Sonst würdest du wissen, dass der Dschungel weit, weit fort von hier ist.“
Er trat ans Fenster zurück und blickte mit einem Ausdruck von Sehnsucht hinaus. Es war ein verwirrender und prächtiger Anblick da draußen. Eine bleiche, violette Dämmerung hatte den Himmel überzogen, und die Wolkenkratzer begannen wie Feenpaläste zu flimmern und zu erstrahlen. Das Farbenspiel der bunten Lichtreklamen flammte an den Häuserwänden auf, und in den Straßenschluchten glitten die lackschimmernden Wagen in unablässiger Kette dahin. So verlockend und farbenreich dieses Bild auch war, Bomba schien jenseits der Steinpaläste und tiefen Straßenschluchten ein anderes Bild zu sehen.
„Hier gibt es keinen Dschungel“, wiederholte Bomba leise. „Hier nicht. Hier gibt es nur Stein und Stahl und Lärm und Licht.“
„Aber es ist doch wahr“, beharrte Gibo. „Es gibt hier einen Dschungel mit dichten Büschen und vielen Bäumen. Und in der Nacht brennen dort nicht so viele glitzernde Lichter wie hier, sondern es ist dunkel wie im Urwald.“
„Und wo soll dieser Dschungel sein?“, fragte Bomba.
„Nicht weit von hier, Herr. Wir können in wenigen Minuten den Ort erreichen.“
Der Ausdruck von Sehnsucht in Bombas Blick verstärkte sich. Gibo erkannte sehr wohl die Bedeutung dieses Schimmers in Bombas Augen, und er wusste, dass seine Mitteilung ihre Wirkung nicht verfehlt hatte.
„Es gibt dort auch wilde Tiere“, fuhr er mit seinen verlockenden Erklärungen fort. „Wilde Tiere und Schlangen, und ein Tier, das ich noch nie gesehen habe: ein graues, riesenhaftes Untier mit zwei Schwänzen —“
„Mit zwei Schwänzen?“, unterbrach Bomba ihn ungläubig.
„Glaube mir, Bomba: es hatte zwei Schwänze — an jedem Körperende einen. Ich habe es mit eigenen Augen gesehen.“
Bomba war schon halbwegs umgestimmt. Noch zögerte er, aber Gibo beeilte sich, den errungenen Vorteil weiter auszunützen.
„Komm, Herr!“, drängte er. „Dein Herz sehnt sich ebenso sehr nach dem Dschungel wie meines. Komm mit mir, solange es dunkel ist. Ich werde dir den Dschungel zeigen, und dann kannst du selbst die großen Schlangen, die Alligatoren und das Tier mit den zwei Schwänzen sehen. Alles wird wieder so sein wie vor dem Tag, an dem dein Vater in den Dschungel kam und uns hierhergebracht hat. Wir werden wieder auf das weiche Gras treten und uns durch die Büsche zwängen. Du kannst dich wieder von Baum zu Baum schwingen und zu den Sternen aufschauen. Dann wird dein Herz Frieden finden, Herr. Komm mit mir!“
Ehe Gibo noch zu Ende gesprochen hatte, war die Entscheidung in Bombas Innerem bereits gefallen. Die Neugierde war schon stark genug, aber die Möglichkeit, für kurze Zeit wieder jenes wilde Leben zu führen, das er bis vor wenigen Monaten im Dschungel geführt hatte, war noch verlockender. Das Verlangen nach der Freiheit und Abenteuerlichkeit seines Urwaldlebens wurde immer stärker in seinem Herzen. Er sehnte sich nach den Kämpfen mit Raubtieren und Schlangen — nach jenen gefährlichen Zweikämpfen, die seinen Mut, seine Geschicklichkeit und Kraft so entwickelt hatten, dass er zum Herrn des Dschungels geworden war.
Aus dem Urwalde, seiner eigentlichen Heimat, hatten ihn die Eltern zuerst in eine große Stadt an der Küste Südamerikas gebracht, und dann waren sie mit ihm und seinem Gefährten Gibo nach New York gereist. Äußerlich betrachtet, besaß er hier alles, was das Herz eines durchschnittlichen Jungen sich nur wünschen konnte. Seine Eltern waren sehr wohlhabend und scheuten keine Kosten, wenn es galt, ihm einen Wunsch zu erfüllen und ihn glücklich zu machen. Sie hatten die besten Erzieher genommen, um Bomba mit den Wundern jenes neuen Lebens vertraut zu machen, in das er nach so vielen Jahren ungebundenen Dschungeldaseins plötzlich versetzt worden war.
Zuerst war alles neu und wunderbar für ihn gewesen. Er hatte die großen Städte bewundert, die riesigen Gebäude, die Eisenbahnzüge, die großen Schiffe, die Flugzeuge und Autos. Die technischen Wunder des elektrischen Lichtes, des Telefons, des Radios und Grammophons hatten ihn eine Weile lang begeistert und entzückt, und er hatte die neuen Eindrücke gierig in sich aufgesogen. Da er eine gute Auffassungsgabe hatte, war es ihm leichtgefallen, alles schnell zu begreifen und jene Wissenslücken zu füllen, die die Jahre im Dschungel bei ihm hinterlassen hatten. Aber so bewundernswert und köstlich zuerst alles gewesen war — allmählich war Bomba mit neuen Eindrücken übersättigt, und die Zivilisation begann ihn wie eine Zwangsjacke einzuengen. Körper, Geist und Seele wurden gleichermaßen in Fesseln geschlagen, und das Verlangen, diese Fesseln zu durchbrechen, wurde natürlicherweise immer stärker.
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