»Aber muss es so sein? Nein, das muss es natürlich nicht.«
Papa drehte eine Pirouette, dann redete er weiter.
»Das liegt nur daran, dass manche in meinem Alter glauben, dass wir klüger werden, je älter wir sind. Sie haben schreckliche Angst davor, dass die, die nach ihnen kommen, eine eigene Meinung haben könnten. Verstehst du, Hannah?«
Ich verstand das nicht so ganz, aber etwas war nicht ganz so wie sonst. Das hier war etwas anderes als der übliche Jobkram, über den er so oft redete. Er sagte zum Beispiel, dass ein Auto das Kind in dir hervorkommen lässt, oder dass gerade diese bestimmte Zahnbürste Kinder zum Lachen bringt, wenn sie sich die Zähne putzen.
Hast du schon mal versucht zu lachen, während du dir die Zähne putzt? Eben! Dann weißt du, dass das nur geht, wenn du vorher die Zahnbürste aus dem Mund nimmst.
Das hier war etwas ganz anderes. Es stimmt ja wirklich, dass die Erwachsenen viel zu viel bestimmen dürfen. Natürlich machen wir Kinder nicht immer alles richtig, aber es kommt schon vor, dass wir etwas falsch machen, nur weil die Erwachsenen sagen, dass es falsch ist. Aber stellt euch vor, das wäre richtig und die Erwachsenen hätten sich geirrt. Stell dir vor, wir könnten zur Schule gehen, wann wir wollen. Oder uns Klamotten aus dem Schrank holen, die nicht passen, die aber trotzdem total klasse sind. Das ist eine wunderbare Vorstellung.
»Ihr wollt die Stimme der Kinder hören, habe ich zu ihnen gesagt. Gemeinsam werden wir die Kinder zu den Hauptpersonen machen. Du, Hannah, und alle anderen Kinder werden bestimmen dürfen. Das sage ich, so wahr ich Finn Fredriksen heiße!«
Und da Papa Finn Fredriksen heißt, war er also von dieser Idee absolut überzeugt.
Jetzt fragst du dich sicher, ob das nicht nur irgendein Unfug war, wie du ihn schon so oft gehört hast. Wenn du zum Beispiel mit deiner Mutter einkaufen gehst und sie fragt dich, was du abends essen möchtest, und du bist ja nicht blöd, also sagst du: Würstchen, aber das war dann trotzdem blöd, denn deine Mutter lässt dich nur entscheiden, wenn du Fisch sagst.
»Weißt du ganz genau, dass das ernst gemeint ist?«, fragte ich und schaute meinem Vater tief in die Augen.
»Ja, darauf kannst du dich verlassen. Ein Mann von einer frisch gegründeten Partei namens Stimme der Zukunft hat uns angerufen und um Hilfe im Wahlkampf gebeten. Weil sie eine neue Partei sind, wollen sie sich um Dinge kümmern, die die anderen alle vernachlässigen. Der Mann, der angerufen hat, sagte, sie wollten die Kinder bestimmen lassen. Nur wissen sie nicht so ganz, wie sie das schaffen sollen. Aber sie gehen davon aus, dass eine Werbeagentur jede Menge Ideen dazu hat, wie sie der Stimme der Kinder Gehör verschaffen können.«
Papa legte einen Stapel Plakate vor uns auf den Küchentisch. Auf den Plakaten waren lächelnde Kinder zu sehen, die die Hände zum Himmel hoben. Unter dem Bild stand mit Kinderschrift: »Wenn wir bestimmen dürften«, und dann kam eine lange Liste von Sachen, die die Kinder wichtig fanden. Die Partei forderte mehr Schulen, bessere Krankenhäuser, sicherere Straßen und andere Dinge, die sicher für Kinder und Erwachsene wichtig sind, die aber nicht weiter helfen, wenn du vor allem findest, dass es erlaubt werden sollte, zum Abendessen Schokomilch zu trinken.
Es gab also keinen Grund, sich viel zu erhoffen, dachte ich. Aber da hatte ich mich total geirrt.
»Ich habe meinen guten Freund vom Fernsehen angerufen, Stängel«, sagte Papa. »Der war Feuer und Flamme. Stängel möchte gerne dazu beitragen, dieses Programm bekannt zu machen, und er hat die Stimme der Zukunft für nächste Woche zu einer Diskussion der Parteivorsitzenden eingeladen. Und – haltet euch fest –, wisst ihr, wer die Stimme der Zukunft vertreten wird?«
Am Tisch wurde es ganz still. Ich kannte keine anderen Politiker als den Ministerpräsidenten, aber es war klar, dass Papa da den Durchblick hatte. Sein Gesicht schien vor Stolz fast schon zu platzen.
»Du nämlich, Hannah. Meine Tochter! Du wirst der ganzen Welt erzählen, was Kinder sich für die Zukunft wünschen.«
Er sagte sicher noch mehr, aber das kriegte ich nicht mehr mit. Ich stand unter Schock, glaube ich, oder wie immer man das nennt, wenn man ganz wackelige Beine kriegt und das Kinn in eine Portion Würstchen mit Kartoffelbrei fällt.
Wenn du zu Hause vor dem Fernseher sitzt, sieht das, was in einem Fernsehstudio passiert, fast ganz normal aus. Der Moderator ist meistens schön angezogen. Die Wände haben tolle Farben, aber ansonsten könnte es fast bei dir zu Hause sein.
Die meisten Leute, die im Fernsehen auftreten, sehen auch aus, als wären sie da zu Hause. Sie wissen genau, was sie sagen wollen und wann sie das sagen sollen. Hast du schon mal im Fernsehen Leute dermaßen stottern gehört, dass sie sich nicht trauen, etwas zu sagen? Und dass sie vielleicht ihre Mutter oder ihren besten Freund anrufen müssen, um sich Rat zu holen? Hab ich mir gedacht. Es kommt auch nicht oft vor, dass die Frau vom Wetterbericht erzählt, dass sie keine Ahnung hat, wie morgen das Wetter sein wird, oder dass die Ansagerin die Nachrichten ankündigt, während sie doch eigentlich sagen sollte: »Willkommen zur Kinderstunde«. Wenn du aber selbst da sitzt, ist das ganz anders, das kann ich dir sagen!
An den letzten Tagen vor der Fernsehsendung hatte Papa viel mit denen geredet, die die Partei Stimme der Zukunft gegründet hatten. Sie sagten, ich solle einfach ich selbst sein. Ich fand das ein bisschen komisch, denn wie konnten sie so was sagen, wo sie mich doch gar nicht kannten? Aber Papa sagte, er habe ihnen genau erzählt, wie ich bin, und deshalb hätte ich keinen Grund zur Sorge. Die Parteileute meinten außerdem, dass Kinder selbst am besten Bescheid wüssten. Deshalb wollten sie ja auch ein Kind als Ministerpräsidenten oder Ministerpräsidentin haben.
»Aber ich hab doch noch nie so eine Diskussion von Parteivorsitzenden gesehen«, sagte ich.
»Davor brauchst du keine Angst zu haben«, sagte Papa und lächelte. »Das ist einfach nur eine Fernsehsendung, die kurz vor der Wahl ausgestrahlt wird. Die Vorsitzenden aller Parteien treffen sich, um über die wichtigsten Themen zu sprechen, bevor die Leute entscheiden, wem sie ihre Stimme geben wollen.«
»Und ich soll also die Vorsitzende von der Stimme der Zukunft sein?«
»Chop-stop. Das sollst du. Meine Tochter soll den Fernsehzuschauern erzählen, warum sie die Stimme der Zukunft wählen sollen.«
Am Tag vor der Sendung gingen Papa und ich neue Kleider für mich kaufen.
»Jetzt, wo das ganze Land dich sehen wird, kannst du dir aussuchen, was dir am besten gefällt.«
Es fiel mir gar nicht schwer, mich zu entscheiden. Ich suchte mir eine tolle glitzernde Hose mit Silbersternen auf dem linken Oberschenkel und eine schwarze Bluse mit einer großen rosa Blume aus. Damit war ich perfekt angezogen!
Dachte ich, bis ich ins Fernsehgebäude kam.
Im Zimmer vor dem Studio wartete der Moderator Stängel. Weil er so hieß, hatte ich mir einen Quatschkopf im T-Shirt vorgestellt, aber Stängel trug einen eleganten dunklen Anzug und einen Schlips. Um ihn herum standen die Parteivorsitzenden, die an der Diskussion teilnehmen sollten. Auch sie waren elegant angezogen, im Kleid oder Anzug. Nirgendwo waren Silbersterne oder rosa Blumen zu sehen.
Wir wurden nebeneinander an einen langen Tisch gesetzt, auf den alle Fernsehkameras gerichtet waren. Ich musste ganz links sitzen. Vielleicht würden die Kameras mich nicht einfangen, wenn ich mich auf meinem Stuhl ganz klein machte? Vielleicht würden sie einfach über meinen Kopf fegen, und dann würde niemand mitkriegen, dass ich im Fernsehen war? Aber das sollte ein Traum bleiben. Die Sendung fing an, und Stängel – oder Stein Andersen, er hatte auch einen richtigen Namen – hieß alle willkommen.
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