Von dieser Stunde an hieß er der Todeskandidat. Die Szene wiederholte sich, nicht nur bei uns, sondern in jeder Klasse, in der seine Beherrschung ihn verließ. Mit Variationen gleichsam, aber unverändert im »Gerüst der Handlung«. Solange bis eines Tages der Direktor die Tür öffnete und vor seinen Füßen ein »Toter« lag. Der Tote wurde erweckt, auf eine unangenehm eindringliche Weise, aber Georgesohn kam nicht wieder. Es hieß, er sei aus dem Amt geschieden, habe die Stadt verlassen und in seinen vorgerückten Jahren das Studium der Theologie begonnen. Seltsam war, daß wir von dem so plötzlich Verschollenen zu sprechen vermieden und daß Jonas’ Stellung in der Klasse für lange Zeit erschüttert war, ohne daß ein zureichender Grund angegeben werden konnte.
Ein paar Jahre später verloren wir alle einander schnell aus den Augen, schneller noch aus den Herzen, und der Tag der Einweihung des Ehrenmals war auch der erste, an dem wir uns in der alten Aula wieder zusammenfanden. Die Zeitungen unsrer Provinz hatten viele Aufrufe gebracht, um die ehemaligen Lehrer und Schüler zu versammeln, und so sahen wir einander vor der weißen Tafel wieder, soweit der Krieg uns übrig gelassen hatte, suchten die alten Namen zusammen, erinnerten uns der Toten und standen dann lange Zeit schweigend, die Augen auf den Namen am unteren Rand der Tafel gerichtet, indes Scham und Bitterkeit uns leise und verstohlen zu erfüllen begannen.
Nach dieser Feier geschah es auch, daß Jonas, mit einem leeren Ärmel an seinem grauen Rock, uns aufforderte, am Abend zusammenzukommen, da er uns von dem Toten etwas zu sagen habe. Und so verwandelt hatte sich sein Gesicht seit seinen Kindertagen, daß niemand sich seiner Bitte entzog.
Es war eine kleine Weinstube, und wir hatten einen Raum für uns allein. Sechzehn von sechsundvierzig. Als niemand mehr kam, wandte Jonas, an der Schmalseite des Tisches, seine grauen Augen von der Tür zu uns. »Dreißig haben es also wieder gutgemacht . . .«, sagte er leise, »und den andern will ich es nun erzählen . . . Wir kamen 1916 zu ihm, an die Somme, Hotop, Jürgen, Adomeit und ich. Von diesem Ersatzbataillon aus, so daß es nicht einmal ein wunderbarer Zufall war. Wir waren Unteroffiziere, alle vier, und wir brachten ihm einen Transport von fünfzig Mann. Wir kamen am Abend an, in der Ruhestellung, und der Feldwebel baute uns auf. Wir standen vor der Front, und es war nicht leicht, dort zu stehen, als er kam. Wir erkannten ihn sofort, alle vier, aber in seinem Gesicht veränderte sich nichts. Siebzehn Jahre sind ja eine lange Zeit, aber ich glaube, daß man ein gutes Gedächtnis für seine Henker hat. ‚Die Namen, bitte‘, sagte er ruhig, als er vor uns stand. Sein Gesicht war ganz anders geworden, gewandelt und geformt und geläutert, ein ganz schmales, ja, ein unerschütterliches Gesicht. ‚Jonas?‘ wiederholte er. ‚Aus welcher Landschaft? . . . So . . . ja . . . dort oben hat man noch biblische Namen . . .‘
Das war alles. Wir zitterten noch lange nachher, und Hotop wollte um unsre Versetzung bitten. Aber dann blieben wir doch. Fremd waren wir, schrecklich fremd. Die alten Leute in der Kompanie wurden nicht müde, von ihm zu erzählen, und wenn sie gewußt hätten, wer wir waren, so hätten sie uns mit ihren Spaten erschlagen . . . Wir machten vieles zusammen mit ihm durch, aber niemals fiel ein Wort, weder des Tadels, noch des Lobes, noch der Erinnerung.
Bis es Hotop traf. Wir waren zurückgegangen, um eine Aufnahmestellung zu erkunden, er und wir vier. Er hatte uns beim Namen gerufen. In einer Mulde traf uns der Feuerüberfall, und Hotop bekam das Sprengstück in die Brust, Er lag da, und Georgesohn kniete neben ihm und hielt ihm den Kopf. ‚Nicht verlassen . . .‘, flüsterte Hotop, ‚Herr Kandidat, bitte nicht verlassen . . .‘ Die Erde brüllte in dem engen Tal, aber jeder von uns hörte die ruhige Stimme ihm Antwort sagen: ‚Niemand wird dich verlassen . . . im dunklen Tal . . .‘ Und während seine Hand über die Stirn des Sterbenden strich, immer auf und ab, waren seine Augen über uns hinaus in das glühende und schreiende Feld gerichtet, ruhige, traurige, unerschütterliche Augen, vor denen wir uns zur Erde warfen, die Stirn in das versengte Gras gepreßt.
Und dann starb Hotop . . . und dann . . . ja, dann drückte er ihm die Augen zu und legte ihm die Hände über der zerrissenen Brust zusammen und sah uns an. Wir hatten die Gesichter gehoben, als der Atem still geworden war, und empfingen nun seinen Blick. Einen Blick ohne Frage, ohne Anklage, ohne Erinnerung, einen Blick, der uns zerteilte und durch das Zerteilte bis zu unseren Kindesbeinen fiel.
‚Lasset uns beten . . .‘ sagte er leise, sprach das Vaterunser, stand auf und ging davon, ohne uns anzusehen, durch das Feuer hindurch, nach der Stellung zurück.
Er wurde am gleichen Abend verwundet und kam nicht wieder. Auch Jürgen ist gefallen, und nur Adomeit ist noch da. Er kann es euch bestätigen. Mehr können wir nicht . . . keiner von uns . . .«
Und Jonas stand auf, nickte uns zu und verließ den Raum.
Am nächsten Morgen war das geschehen, was zu Beginn erzählt worden ist: die Vergoldung des toten Namens. Es ist viel darüber gesprochen und geraten und gekämpft worden. Das Kollegium und ein Teil der kleinen Stadt haben auf eine Entfernung der Willkür gedrungen, aber der Direktor hat sich geweigert. Es stehe allen denen zu, hat er gesagt, die auf dieser Tafel stünden, und wenn nur ein einzelner Name von dem Gold des Ruhmes bedeckt worden sei, so könne niemand wissen, ob ihm nicht ein Vielfaches des Erleidens und Sterbens bereitet gewesen sei, sicherlich aber sei ein Vielfaches der Liebe an ihn gewendet worden. Und mit der Liebe sei es so, daß auch das Vielfache noch immer hinter dem zurückbleibe, was wir den Toten schuldeten.
Конец ознакомительного фрагмента.
Текст предоставлен ООО «ЛитРес».
Прочитайте эту книгу целиком, купив полную легальную версию на ЛитРес.
Безопасно оплатить книгу можно банковской картой Visa, MasterCard, Maestro, со счета мобильного телефона, с платежного терминала, в салоне МТС или Связной, через PayPal, WebMoney, Яндекс.Деньги, QIWI Кошелек, бонусными картами или другим удобным Вам способом.