Ein Augenblick, unmeßbar, unwägbar, versäum ihn, es ist aus. Der König hält, er steht in den Steigbügeln auf. Als müßte der Augenblick dennoch gemessen werden, faßt er nach seiner Taschenuhr, hat sie aber verloren: achtzig Taler, und der Augenblick unmeßbar. Sein Plan war anders; wahrhaftig hat der ehrgeizige Stratege niemals aufgezeichnet oder vorgesehen, was er jetzt unternehmen wird. Ein Blick rückwärts, wo alles schweigt, plötzlich tief schweigt: „Dreht das Gesicht her! Und wollt ihr nicht kämpfen, seht mich sterben.“ Schon schnellt er vor um zwei Pferdelängen, dringt wütend in den Wald der feindlichen Lanzen, packt sie mit den Händen, hält die Feinde auf, bis seine Reiter da sind. Hält sie nicht nur mit seinen Händen auf, sondern zeigt ihnen sein Gesicht, das Macht und Hoheit spricht: sonst vielleicht anderes, hier Hoheit und Macht. Zuerst die Beschämung mit dem Mönch, dann ihr Schrecken vor den Kanonen, jetzt aber das Gesicht des Königs. Sie haben den Augenblick versäumt, die Spanier, Franzosen, deutschen Reiter! Königliche über ihnen, zerhauen sie, versprengen sie, durchstoßen die gelichtete Front des soeben noch furchtbaren Feindes. Ein Reiter bringt dem König seine Uhr zurück, was besonders erstaunlich ist, und sagt dazu:
„Sire! Vor weniger als einer Viertelstunde waren wir geschlagen.“
„Schont die Franzosen!“ rief der König den Verfolgenden nach. Die Schweizer der Liga ergaben sich, sie hatten keinen Streich getan. Der König selbst, an der Spitze von nur fünfzehn oder zwanzig Pferden verfolgte eine Schar von mehr als achtzig Flüchtenden. Als er anhielt, hatte er eigenhändig sieben getötet und eine Fahne erobert. Auf der Stelle, wo er anhielt, endeten Schlacht und Sieg von Ivry. Der König stieg vom Pferd und kniete hin. Seinen Hut warf er zu Boden: Niemand mehr sollte sich nach dem großen weißen Federbusch richten, gern wäre er allein und allen fern gewesen; viel versprengtes Getümmel erscholl aber allseits aus der Ebene. Der König, kniend, zog aus der Brust ein Blatt Papier, das Danklied, geschrieben von seinem alten Gefährten Du Bartas.
Ganz entfernt mühte sich Mayenne aus dem Hause Lothringen, Führer der großmächtigen Liga, mühte sich, so beleibt er war, verzweifelt mit nur zwei der Seinen, ob er nicht doch noch eine Streitmacht sammeln könnte. Ganz entfernt, in anderer Richtung, erwachte ein übel zugerichteter Ritter — sollte aber dereinst der berühmte Herzog von Sully sein — aus seiner Ohnmacht unter einem Birnbaum.
Rosny betastete seine Glieder und Körperteile, keines war ganz, Schwerter, Pistolen und Lanzen, alle hatten ihn zugerichtet, und war auch noch mit dem Pferd gestürzt: mit seinem ersten, als diesem der Bauch aufgeschlitzt worden war. Auf sein zweites besann er sich gar nicht mehr. Wo er an sich hingriff, war geronnenes Blut. ,Jämmerlich muß ich aussehen‘, dachte der Baron, dem viel an seinem glatten Gesicht lag. Der Abend sank. ,Mein Schwert in Stücken, mein Helm verbeult, den Panzer muß ich ausziehen, schrecklich drückt das verbogene Eisen meinen wunden Leib.‘ — „He! Arkebusier, wohin so eilig? Komm näher, fünfzig Taler für den Gaul, den du am Zügel führst! Aber du mußt mir hinaufhelfen.“
Kaum hat der Kerl das Geld, läuft er. Der Ritter, im Sattel schwankend vor Blutverlust, Hunger, Durst und Schwäche, findet die Richtung nicht, irrt über das Schlachtfeld: da stößt er auch noch auf den Feind — andere Ritter, ihre Standarte besät mit den schwarzen Kreuzen von Lothringen. Wollen mich gewiß gefangennehmen, die Schlacht haben wir nun einmal verloren.
„Wer da?“ rief einer der Edelleute von der Liga.
„Herr de Rosny, im königlichen Dienst.“
„Wie, was, Sie kennen wir doch. Erlauben Sie, Herr de Rosny, daß wir uns Ihnen vorstellen. Wollen Sie die Höflichkeit haben, uns gegen Lösegeld gefangenzunehmen?“
„Wie, was“, sagte zuerst auch er. Aber das Wort „Lösegeld“ klärte ihm alsbald den Kopf auf. Fünf vermögende Edelleute, und jeder wollte nach seinem Wert bezahlen. Da erfaßte Rosny die Lage. Unter seinem Birnbaum war er unversehens zum Sieger geworden.
Sein König inzwischen kniete auf dem Schlachtfeld, seine Gesellschaft waren weithin nur Tote, zu mehreren oder vereinzelt, und es wurde dunkel um ihn. Seine Reiter vom letzten Treffen hatten ihn verlassen, da sie bemerkten, daß er von einem Blatt ablas und die Lippen bewegte. Es war Nacht, er steckte das Papier weg, das allerdings ein Danklied übermittelte — ihm klang es zu prachtvoll und auch wieder zu traurig. Sein eigener Dank an Gott den Herrn war, daß er ihn vernünftig nannte. „Gott ist immer auf Seiten der Vernunft“, sagte Henri, hier kniend nach der Schlacht; später aber aufrecht auf dem Thron sprach er dasselbe.
Meine Feinde haben armselige, aufgeblasene Köpfe voll Lug und Trug: darum. Sie vermessen sich eines Ehrgeizes und Machtdünkels, die ihnen nicht zukommen: darum der Zorn des Herrn. Ihr Glaube ist bestimmt falsch, schon weil es der ihre ist; und gegen sie arbeitet die Vernunft Gottes. Denn die ist für das Königreich.
So hieß sein Bekenntnis und klang ihm klar wie nie in der Schattenstille eines verlassenen Schlachtfeldes. Darum berührte ihn zum erstenmal kein Mitleid mit den Geschlagenen. Tausend von ihnen mußten niedergemacht sein, gewiß fünfhundert gefangen, und im Fluß ertrunken wer weiß wie viele. ,Indessen hat die Geduld des Herrn ihre Grenzen. Verlieren auch all ihr Gepäck an uns, wir setzen ihnen nach, und so erleichtert sie dahinfliehen, diesmal wollen wir früher als sie in Paris sein. Das gib, o Herr, denn Deine Geduld hat ihre Grenzen.‘
So lautete seine Andacht nach dem Siege, anstatt daß er sonst um jedes seiner getöteten Landeskinder Tränen vergoß. Das Böse wird aber zuletzt unverzeihlich, was Henri hier durchaus empfand, und den dicken Mayenne würde er aufgehängt haben.
Jetzt wurden dort hinten einige Lichter von Fleck zu Fleck bewegt. Der König ging zu seinen Edelleuten, die unter den Toten die Ihren suchten. „Das ist Herr de Fouquières“, stellte er fest. „Er hätte nicht fallen sollen, ich brauchte ihn noch.“
Sie sagten ihm, daß der Gefallene eine Frau hinterlasse, und diese erwarte ein Kind.
Der König verfügte: „Seine Pension geb ich dem Bauch.“
Weiter trugen sie ihre Windlichter von Leiche zu Leiche, bis sie anlangten bei der des Obersten Tisch. Der König prallte zurück, er bedeckte die Augen. ,Hätt ich ihn nicht umarmt! Gleich nachher ritten wir den Angriff, da muß es geschehen sein. Er wollte mir’s zu ehrlich heimzahlen.‘ — „Für meinen tapferen Schweizer mein Kreuz vom heiligen Geist“, sagte der König und wollte es sich von der Brust nehmen. Da war kein Kreuz, war in der Schlacht verloren, auch kein Reiter brachte es zurück. Der König senkte den Kopf wegen des Gefühls seiner Ohnmacht. So machen sie sich denn fort, und ich hab nichts, ihnen nachzuschicken. Was ginge sie mein kurzer Sieg noch an, da sie selbst am Sitz des ewigen Sieges sind. Auf einmal wußte er das ganze Danklied, so wie er es gelesen hatte beim sinkenden Abend, und hatte es sowohl zu prächtig als zu traurig gefunden. Jetzt wurde aber seine Brust sehr angstvoll zusammengeschnürt.
Schnell entriß er einem das Licht und eilte damit zu den nächsten Toten, bis er den vorgeahnten hatte. Aufschluchzen konnte er nicht, sehr angstvoll zusammengeschnürt war die Brust. Führte aber das Licht immerfort über seinen alten Gefährten hin, wie er daläge, die Hände hielte, ob in seinen gebrochenen Augen kein Vermächtnis stände. ,Keines. Natürlich keines. Denn erstens ist dies einer von mehreren aus dem berittenen Haufen von einst. Bleiben noch genug Hugenotten. Aber dieser wollte gehen — warum? War deine Zeit herum, mein Du Bartas? Wie steht es dann mit mir?‘
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