Lange durchforschte er seine Garderobe. Sämtliche Gewänder, und es gab deren viele, blätterte er aufmerksam durch, ob er die passende Geschichte fände in diesem vielfältigen und kostbaren Buch, doch nichts gefiel ihm und nichts empfahl sich als Anfang eines neuen Spiels für den Mann namens Simon Chrysander. Endlich stieß er auf das Kleid des Winters. Er hatte es auf der Bühne getragen, als man in Whitehall das Stück von Pomona und Pan aufführte zum Geburtstag der Königin. Der Winter hatte Pomona geraubt und fortgeschleppt und dazu allerlei Verse über kargen Boden und Bäume ohne Frucht rezitiert, um den König zu amüsieren, der seine kinderlose Frau nicht allzu sehr schätzte.
Das Kostüm des Winters war weiß wie das Kleidchen der Hure: alles, vom Hut bis zu den Schuhen. Nur eine schmale silberne Stickerei, Schneeflocken vielleicht oder Eisblumen, zierten Ärmel und Hosenbänder. Man konnte diesen Anzug in Gesellschaft nicht tragen. Weiß in Weiß sah die Mode nicht vor. Lucius drehte die Perücke des Winters in den Händen. Die weißen Locken sagten ihm nicht zu. Er überlegte. Dann schickte er nach dem Barbier.
Drei Stunden später warf der Barbier die Papilloten fort und stellte die Brennscheren ins Wasser. Lucius massierte seinen Nacken. Es war schwere Arbeit, sein glattes Haar in ein Gebilde zu verwandeln, das aussah wie die schönste Perücke. Lucius ließ sich ankleiden und trat vor den Spiegel. Da stand der Winter, mit blassen Wangen, dicht in rote Locken gehüllt, als trüge er Feuer auf den Schultern. Lucius war sich fremd in diesem Kostüm. Er schminkte seine Lippen, dann wischte er die Farbe wieder fort. Auch Puder wollte er nicht und erst recht kein Bleiweiß. Der Schwede sollte ihn erkennen. Das wiederholte er lautlos, als er in die Kutsche stieg, er soll sich wundern, aber er soll mich kennen, er soll wissen, dass ich das bin, ich, Lord Fearnall, ich, Lucius Lawes, ich, Lucy, im weißen Kleid und mit dem eigenen Haar.
Er lächelte furchtsam vor sich hin. Er wollte den Degen ablegen. Eine seltsame Idee. Lucius lächelte weiter, ein wenig starr, und er legte den Degen ab und schob ihn unter den Sitz.
Er fuhr bis zur Royal Exchange, dort stieg er aus und nahm eine Sänfte. Es waren nur noch wenige Schritte bis zum Haus des Schweden, aber er konnte nicht zu Fuß gehen in seinen weißen Seidenschuhen und all seiner weißen Pracht. Throgmorton Ecke Broad Street schickte er die Sänfte fort. Es war längst dunkel. Viele Leute eilten noch durch die Straßen, die Männer von der Börse und vom Steueramt, die auch sonntags nicht von ihren Dienststellen lassen konnten, Verkäufer, Gesindel, Burschen mit Licht, Familien, die andere Familien besuchten zum Abendbrot. Lucius stakste über eine Pfütze und suchte sich eine trockene Stelle. Dort stand er wie festgewurzelt. Passanten gafften ihn an. Lucius blickte hinauf zu den Fenstern.
Nun beträte er das Haus. Dann stiege er die Treppen hinauf. Es gäbe einen Türklopfer, vielleicht eine Glocke, vielleicht stünde der junge Wilde auf der Schwelle, vielleicht auch die eine oder andere gelehrte Erfindung, ein Messgerät womöglich, das Besucher begutachtete, ob sie auch wohlgesinnt seien. Bei Lucius mäße das Gerät vertrackte Werte. Er träte trotzdem ein. Der Schwede trüge einen Hausmantel und ein Tuch um den Kopf und zöge eine seltsame Miene. Er schwiege. Lucius schwiege ebenfalls. Er wäre verlegen und wüsste nicht, was zu tun sei in diesem Fall. Der Schwede sähe ihn lange an, und Lucius ertrüge den Blick tapfer, und der Schwede würde dann seines weißen Anzugs gewahr und seiner roten Locken und auch seiner Verlegenheit, und er ließe Lucius noch ein wenig leiden und dann bäte er ihn leise und nicht allzu freundlich, ihn zu unterrichten über die Bedeutung dieses Kostüms, und wenn sich Lucius überwände, in die Augen des Schweden zu blicken, sähe er darinnen, dass dieser den Winter überaus kleidsam fand und auch das Werk der Brennschere. Lucius lüde den Schweden dann ein, selbst zu bestimmen – das Kleid, das Haar, den späten Besuch, und Lucius an sich: was dies alles bedeute.
«Mylord», begänne der Schwede, «um Euch zu bestimmen, muss ich Euch, mit Verlaub, untersuchen, wie die Objekte im Gresham College. Voreilig hielt ich diese Aufgabe für einfach. Doch ist sie wohl der Mühe wert. Zwar nannte ich Euch eine Missgeburt und kann dies eben nicht widerrufen, doch auch solche, wie man weiß, lohnen eine Bestimmung und zeigen die Vielfalt der Natur. Zwar habt Ihr mich gefoppt und beleidigt und ich grolle Euch sehr, doch weil ich Euch, in meinem Aberwitz, gut leiden mochte, als wir einander gestern trafen ...» Hier unterbräche er sich. Lucius schlüge die Augen nieder. «Nun denn», führe der Schwede fort, «ich will annehmen, Mylord, dass Ihr Wert genug habt, um studiert zu werden wie ein indianischer Kürbis oder ein Einsiedlerkrebs, der sich fremde Muschelschalen anzieht, weil er selbst kein Haus hat und sein Leib zu weich ist für ein ungepanzertes Leben. So will ich Euch denn bestimmen, zumal Ihr ausseht in Eurem weißen Kleid wie ein Baumwollstrauch aus Virginia.»
So spräche der Mann aus Schweden zu Lucy im weißen Kleid. Bald vergäße er den Mylord und das Euer Ehren, und Lucy vergäße, dass er kein Spiel wusste für den Schweden, und der Schwede brächte nach und nach eine gute Ordnung in Lucy, und Lucy brächte nach und nach eine gute Unordnung in den Schweden, und dies ginge weiter und weiter, die ganze Nacht.
Wie versteinert stand der Earl of Fearnall in der Throgmorton Street. Er fror. Sein Nacken schmerzte. Keinen einzigen Schritt wagte er in Richtung dieses Hauses. Er stand lange, eine Alabasterfigur mit menschlichem Haar, stumm und entsetzt und immer entsetzter, «die Pest ...», begann er, und noch einmal «die Pest ...», und irgendwann gab er es auf.
Lucius rannte die Broad Street entlang bis zur Börse und bis nach Cornhill und bis zum Church Market. Er stolperte. Er hatte kein Licht. Bald waren seine Schuhe nass und dann auch die Strümpfe und der Kot der Straße bespritzte das Kleid des Winters. Lucius folgte der Cheapside, dann bog er nach links ab in die finsteren Gassen. Er lief weiter, den Hut unterm Arm. Seine Locken ringelten sich eng, dann lösten sie sich langsam auf. Das Öl, das sie festigte, mischte sich mit dem Nebel, es machte Flecken auf Lucius’ Schultern und auf seiner Stirn. Er erreichte Lambeth Hill und lief hinunter zu den Werften. «Die Pest soll dich holen!», schrie Lucius die Themse an. Es gab Piraten auf dem Fluss. Lucius wünschte sich sehr, einer möge kommen, ihn angreifen vielleicht oder besser, ihn mitnehmen, auf die Themse und bis zum Meer, und ihn dort in seine Obhut nehmen als Piratenschüler, mit neuem Namen und geschorenem Haar und einem künstlichen Gesicht aus Wachs, damit niemand auf den gekaperten Schiffen den Earl of Fearnall erkenne, der seinen Stand und seine Erziehung so schimpflich verleugnete.
Kein Pirat kam zu Lucius Lawes. Auch sonst kam niemand. Allerlei Gestalten schlichen bei den Werften umher, aber sie behelligten das weiße Wesen nicht, denn es sah aus wie ein Schauspieler, den man von der Bühne gepfiffen hatte, oder wie das Gespenst eines Ertrunkenen.
Lucius kehrte um. Er lief die Thames Street stadtauswärts und dann nach links in die Black Boy Alley. Er fand das Haus, das er suchte. Lucius begann zu schreien. Er schrie nach Mr. Digges, immer wieder, immer lauter. Irgendwann öffnete Mrs. Digges ein Fenster. Sie war fett und pockennarbig und nicht angetan von der späten Störung.
«Schaffen Sie mir Ihren Mann her», brüllte Lucius. «Jetzt!»
Mrs. Digges verschwand. Mr. Digges schlurfte zum Fenster.
«Ja!», schrie Lucius.
Mr. Digges erkannte ihn nicht.
«Ich bin’s, Edward Pett», schrie Lucius, «kommen Sie herunter, ich brauche Sie, bringen Sie zwei Waffen mit, beim Himmel, ich bitte Sie, ich brauche Sie jetzt!»
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