Raymond hatte nie die Elendsbehausungen besucht, und die Szene, die sich ihm jetzt darstellte, traf ihn bis ins Mark. Der Boden war an vielen Stellen eingesunken; die Wände waren heruntergekommen und kahl – die Decke wies Nässeflecken auf – ein zerlumptes Bett stand in der Ecke; im Zimmer standen nur zwei Stühle und ein grober, beschädigter Tisch, auf dem ein Licht in einem Kerzenleuchter aus Zinn leuchtete – doch inmitten jener trostlosen und herzzerreißenden Armut war ein Hauch von Ordnung und Sauberkeit, der ihn überraschte. Der Gedanke war flüchtig; denn seine Aufmerksamkeit wurde sofort auf den Bewohner dieser elenden Wohnstatt gelenkt. Es war eine Frau. Sie saß am Tisch; eine kleine Hand beschirmte die Augen vor der Kerze; die andere hielt einen Bleistift; ihr Blick war auf eine Zeichnung vor ihr gerichtet, die Raymond als den ihm vorgelegten Entwurf erkannte. Ihre ganze Erscheinung weckte sein tiefstes Interesse. Ihr dunkles Haar war geflochten und zu dicken Knoten zusammengebunden wie der Kopfputz einer griechischen Statue; ihr Gewand war gemein, aber ihre Haltung hätte als Modell der Anmut gelten können. Raymond hatte eine verworrene Erinnerung daran, dass er eine solche Gestalt schon einmal gesehen hatte; er ging durch den Raum; sie hob die Augen nicht, fragte nur auf Griechisch, wer ist da? »Ein Freund«, antwortete Raymond in derselben Sprache. Sie blickte verwundert auf, und er sah, dass es Evadne Zaimi war. Evadne, einst das Idol von Adrians Zuneigung, die den edlen Jüngling zugunsten ihres gegenwärtigen Besuchers verschmäht hatte, und dann, von dem vernachlässigt, den sie liebte, mit zerbrochenen Hoffnungen und einem stechenden Gefühl des Elends, in ihr heimatliches Griechenland zurückgekehrt war. Welche Wirren des Schicksals konnten es vermocht haben, sie nach England und in eine solche Unterkunft zu bringen?
Raymond erkannte sie; und sein Betragen änderte sich von höflicher Mildtätigkeit zu den wärmsten Beteuerungen von Freundlichkeit und Mitgefühl. Ihr Anblick in ihrer gegenwärtigen Situation drang wie ein Pfeil in seine Seele. Er saß bei ihr, nahm ihre Hand und sagte tausend mitfühlende und teilnahmsvolle Dinge. Evadne antwortete nicht; ihre großen dunklen Augen waren niedergeschlagen, endlich schimmerte eine Träne in ihren Wimpern. »So«, rief sie, »kann Güte bewirken, was keine Entbehrung, kein Elend jemals bewirkt hat; ich weine.« Sie vergoss in der Tat viele Tränen, ihr Kopf sank unbewusst auf Raymonds Schulter, er hielt ihre Hand, er küsste ihre eingefallene tränennasse Wange. Er sagte ihr, dass ihre Leiden nun vorüber seien. Niemand beherrschte die Kunst des Tröstens so gut wie Raymond, er erteilte weder gute Ratschläge noch hielt er Reden, aber sein Blick glänzte voller Mitgefühl. Er brachte angenehme Bilder vor die Leidende, seine Liebkosungen erregten kein Misstrauen, denn sie entstanden nur aus dem Gefühl, das eine Mutter dazu bringt, ihr verwundetes Kind zu küssen, einem Wunsch, auf jede nur erdenkliche Weise die Wahrheit seiner Gefühle zu demonstrieren, und der Dringlichkeit seines Wunsches, Balsam in den verletzten Geist der Unglücklichen zu gießen.
Als Evadne ihre Fassung wiedererlangte, wurde sein Benehmen sogar fröhlich. Ihre Armut beflügelte seine Phantasie. Etwas sagte ihm, dass es nicht die wirklichen Übel waren, die schwer auf ihrem Herzen lagen, sondern die Erniedrigung und Schande, die daraus folgten. Während er redete, beraubte er sie dieser; zuweilen sprach er mit lebhaftem Lob von ihrer Stärke, dann wieder nannte er sie, in Anspielung auf ihren vergangenen Zustand, seine verkleidete Prinzessin. Er machte ihr herzliche Angebote, ihr dienlich zu sein. Sie war zu sehr mit fesselnderen Gedanken beschäftigt, um sie entweder zu akzeptieren oder abzulehnen; schließlich verließ er sie, indem er versprach, seinen Besuch am nächsten Tag zu wiederholen. Er kehrte mit gemischten Gefühlen, Kummer über Evadnes Elend und Freude über die Aussicht, es zu erleichtern, nach Hause zurück. Ein Beweggrund, über den er nicht einmal selbst nachdenken wollte, hielt ihn davon ab, Perdita von seinem Abenteuer zu erzählen.
Am nächsten Tag warf er zur Tarnung seiner Person einen Umhang über und besuchte erneut Evadne. Auf dem Weg kaufte er einen Korb mit teuren Früchten, solcherart, wie sie in ihrem eigenen Lande wuchsen, warf verschiedene schöne Blumen darüber hin und trug ihn persönlich in die elende Dachstube seiner Freundin. »Sieh nur«, rief er, als er eintrat, »welches Vogelfutter ich für meinen Spatz auf dem Hausdach mitgebracht habe.«
Evadne erzählte nun die Geschichte ihres Unglücks. Ihr Vater, obwohl von hohem Rang, hatte am Ende sein Vermögen aufgebraucht und sogar seinen Ruf und Einfluss durch eine fortgesetzte Zügellosigkeit zerstört. Seine Gesundheit war beeinträchtigt und es gab keine Hoffnung auf Heilung, so dass es sein ernstlicher Wunsch wurde, ehe er starb, seine Tochter vor der Armut zu bewahren, die mit ihrem Waisenstand einhergehen würde. Er nahm deshalb für sie einen Heiratsantrag von einem wohlhabenden griechischen Kaufmann an, der in Konstantinopel niedergelassen war, und überredete sie, ihn zu akzeptieren. Sie verließ ihre Heimat Griechenland, ihr Vater starb, nach und nach war sie von allen Gefährten und Banden ihrer Jugend abgeschnitten.
Der Krieg, der etwa ein Jahr vor der damaligen Zeit zwischen Griechenland und der Türkei ausgebrochen war, führte zu vielen finanziellen Rückschlägen. Ihr Mann ging bankrott, und dann waren sie in einem Aufruhr und drohenden Massaker seitens der Türken gezwungen, mitten in der Nacht zu fliehen, und sie erreichten in einem offenen Boot ein englisches Segelschiff, das sie sofort nach England brachte. Von den wenigen Juwelen, die sie gerettet hatten, lebten sie eine Weile. Es benötigte die ganze Kraft von Evadnes Verstand, um den versagenden Mut ihres Ehemannes aufrechtzuerhalten. Der Verlust des Eigentums, die Hoffnungslosigkeit in Bezug auf seine Zukunftsaussichten und die Untätigkeit, zu der ihn die Armut verurteilte, versetzten ihn in einen Zustand, der an Wahnsinn grenzte. Fünf Monate nach ihrer Ankunft in England beging er Selbstmord.
»Sie werden mich fragen«, fuhr Evadne fort, »was ich seitdem getan habe, warum ich nicht bei den hier ansässigen reichen Griechen um Hilfe gebeten habe, warum ich nicht in mein Heimatland zurückgekehrt bin? Meine Antwort auf diese Fragen muss Ihnen unbefriedigend erscheinen; doch mich hat sie dazu bewogen, Tag für Tag jedes Elend zu ertragen, statt mit solchen Mitteln Erleichterung zu finden. Soll die Tochter des edlen, wenn auch verschwenderischen Zaimi als eine Bettlerin vor ihren Gleichgestellten oder Untergebenen erscheinen – denn Übergeordnete hatte sie keine? Soll ich meinen Kopf vor ihnen beugen und mit kriecherischer Gebärde meinen Adel für das Leben verkaufen? Hätte ich ein Kind oder irgendeine Verpflichtung, die mich an die Welt bindet, könnte ich zu dieser – wie auch immer gearteten – Welt hinabsteigen. Aber so wie es ist – war die Welt für mich eine böse Stiefmutter; ich würde gern den Aufenthalt beenden, den sie mir zu missgönnen scheint, und im Grabe meinen Stolz, meine Mühsal, meine Verzweiflung vergessen. Die Zeit wird bald kommen, Kummer und Hunger haben bereits an den Grundlagen meines Wesens gezehrt; noch eine sehr kurze Zeit, und ich werde verstorben sein; unbefleckt vom Verbrechen des Selbstmordes oder von der Erinnerung an Erniedrigung wird mein Geist die erbärmliche Hülle beiseitewerfen und eine solche Belohnung finden, wie es Stärke und Ergebung verdienen. Das mag Ihnen als ein Zeichen von Wahnsinn erscheinen, doch auch Sie fühlen Stolz und Entschlossenheit; wundern Sie sich also nicht, dass mein Stolz unbezwinglich ist und meine Entschlossenheit unveränderlich.«
Nachdem Evadne ihre Geschichte beendet und erklärt hatte, weshalb sie sich aller Bemühungen, Hilfe von ihren Landsleuten zu erhalten, enthielt, hielt sie inne; dennoch schien sie mehr sagen zu wollen, wofür sie keine Worte finden konnte. In der Zwischenzeit war Raymond beredt. Sein Wunsch, seiner lieben Freundin wieder zu ihrem Rang in der Gesellschaft und zu ihrem verlorenen Wohlstand zu verhelfen, belebte ihn, und er ließ eifrig all seinen Wünschen und Absichten zu diesem Gegenstand freien Lauf. Er wurde jedoch unterbrochen. Evadne verlangte ihm das Versprechen ab, dass er vor all ihren Freunden verbergen sollte, dass sie sich in England aufhalte. »Die Verwandten des Grafen von Windsor«, sagte sie hochmütig, »denken zweifellos, dass ich ihn beleidigt habe; vielleicht wäre der Graf selbst der Erste, der mich freisprechen würde, aber wahrscheinlich verdiene ich keinen Freispruch. Ich habe damals gehandelt, wie ich musste, aus dem Impuls heraus. Diese elende Unterkunft mag wenigstens die Uneigennützigkeit meines Betragens beweisen. Gleichwie: Ich möchte mich vor keinem von ihnen bekennen, nicht einmal vor Eurer Lordschaft, hätten Sie mich nicht zuerst entdeckt. Meine Taten werden beweisen, dass ich lieber gestorben bin, als verachtet zu werden – seht die stolze Evadne in ihren Fetzen! Seht die Bettlerprinzessin! Es liegt Viperngift in dem Gedanken – versprechen Sie mir, dass Sie mein Geheimnis wahren werden.«
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