Erdmann Graeser
Roman
Saga
Spreelore
© 1955 Erdmann Graeser
Alle Rechte der Ebookausgabe: © 2016 SAGA Egmont, an imprint of Lindhardt og Ringhof A/S Copenhagen
All rights reserved
ISBN: 9788711592496
1. Ebook-Auflage, 2016
Format: EPUB 3.0
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I. Teil
Die große Stadt singt ihr lautes Lied vom Morgen bis tief in die Nacht hinein. Über viele Brücken tost das Leben Berlins. Unten aber, auf der Spree und auf den Kanälen, gleiten lautlos große Frachtkähne dahin, bringen Holz und Ziegelsteine, Sand und Mörtel, Kohlen und Torf. Etlichen dient ein kleiner Dampfer als Vorspann, aber die meisten werden mühselig vorwärtsgestakt. Die Frau des Schiffers, den Strickstrumpf in der Hand, steht am Steuer, einige Kinder spielen bei der Kombüse; aus dem Schornstein steigt dünner Rauch, ein kläffender Spitz jagt ruhelos auf den Planken hin und her.
Die Menschen oben auf der Brücke, die eben hinuntergeblickt hatten, als der große Kahn mit dem grünen Vordersteven unter der dunklen Wölbung verschwand, diese Menschen, deren Stadt, „ihr“ Berlin, sich von Jahr zu Jahr wandelt, haben vor sich ein Bild, das seit alten Zeiten unverändert ist. Was Berlin auch durchzumachen hatte und was es noch erleben wird, die Schiffer mit ihren Kähnen kamen und werden nach wie vor kommen. Immer werden sie zu dem steinernen Ungeheuer hinüber starren. Sie bringen ihm das, was es braucht, und dann ziehen sie wieder davon, langsam, gemächlich, bis sie draußen, auf den großen Seeflächen oder der Elbe, den Mast wieder aufrichten und die Segel setzen können.
Aber zuweilen geschieht es, daß jemand von solch einem Frachtkahn in der Stadt zurückbleibt und vielleicht sogar auch seßhaft wird. Dann sucht er sicherlich die auf, die schon vor ihm heimisch wurden, und nicht zuletzt in den Gäßchen nahe dem Spreeufer, und dort findet er wohl meistens ebenfalls Unterschlupf.
So kommt es, daß hier am Wasser Menschen zusammenwohnen, die sich mitunter schon von ihrer Jugendzeit her kennen und nun ebenso zu der großen Stadt gehören, wie alles andere, was in ihr lebt.
In solch einer Straße nahe am Wasser – der Friedrichsgracht – die mit ihren kleinen, schmalen Häusern in den siebziger Jahren noch ganz unberührt von baulichen Veränderungen war, hatte auch die Witwe Anna Lorenzen mit ihrem Töchterchen Zuflucht gefunden. Nach dem spurlosen Verschwinden ihres Mannes, der vom Kahn unbemerkt ins Wasser gestürzt und wohl ertrunken war, hatte sie damals den „Spreewinkel“ aufgesucht. Zumal nicht weit davon – in der Breiten Straße – der steinreiche Ziegeleibesitzer Semper wohnte, in dessen Haus sie früher in Stellung gewesen war. Für Herrn Semper hatte ihr Mann in den letzten Jahren Steine nach Berlin gebracht, und zwar auf seinem eigenen Kahn, den er schon vom Vater her besaß.
Nun wusch und plättete Frau Lorenzen für Sempers und andere wohlhabende Leute. Auch heute, an diesem schönen Frühlingstag, war sie damit beschäftigt. Die kleine Küche, die beinahe der auf einem Frachtkahn glich, war von feuchtem, warmem Dunst erfüllt. Ihr Mädelchen, Lore, ein blondes Ding mit schmalem, feinem Gesichtchen, saß in der Nebenstube, in der das Bemerkenswerteste das Bild des Vaters war, das über dem Bett hing. Freilich nur eine allmählich verblaßte Photographie, die noch aus der Bräutigamszeit stammte. Lorenzen, der ebenso blondes, aber krauses Haar gehabt hatte wie seine Lore jetzt, stand breitbeinig vor dem Beschauer, eine Ziehharmonika in der Hand und lachte über das ganze Gesicht, er schien zu singen ... „Juvivallera!“ hatte er unter das Bild geschrieben und es seiner Braut geschenkt – damals, als er noch Matrose gewesen war auf Käpten Gundermanns Vollripper. „Juvivallera!“ war sein Leitspruch gewesen, bis sich – ja, bis sich das Kind gemeldet hatte ... Damals, da mußte er schleunigst das hübsche Dienstmädchen von Sempers heiraten, und mit dem lustigen Matrosenleben in Hamburg war es ziemlich plötzlich zu Ende; er wurde Spree- und Elbschiffer. Doch sein ungestümes Blut war damit nicht zur Ruhe gekommen, und wenn er zur Feierabendzeit auf Deck saß und seine Harmonika spielte, ging ihm so manche prickelnde Erinnerung durch den Kopf: Wie ihn der Vater damals aus Schönfließ zur Tante nach Berlin in Pflege gegeben hatte, damit er endlich eine ordentliche Schule besuchte, und wie er dann eines schönen Abends auf einem Frachtkahn nach Hamburg durchgebrannt und Schiffsjunge geworden war ... Wie ihn später Käpten Gundermann geheuert, der Schwiegervater des reichen Semper, der ihn schließlich auch zur Heirat zwang, als sich die Geschichte mit der Anna nicht länger verheimlichen ließ. Ja – natürlich – der Abend in Stralau war schuld gewesen, sonst wäre er – Lorenz Lorenzen – doch noch, wie er so gern gewollt, nach Südamerika, nach dem Äquator, gekommen. Aber solch ein Tanzvergnügen am Tage des „Fischzuges“ hatte schon so manchem lustigen Burschen Fesseln fürs ganze Leben angelegt, doch daß es nun gerade auch ihm so gehen mußte, ihm – dem „Juvivallera-Lorenz“, wie man ihn nannte, das war ihm eigentlich immer noch unfaßbar. Dem alten Vater Lorenzen war es wie ein großes Glück erschienen, daß der wilde Junge nun doch gebändigt war – eine ebenso tüchtige wie hübsche Frau bekam und – das war ihm die Hauptsache gewesen – Schiffer wurde, wie es alle Lorenzen gewesen waren, so weit man zurückdenken konnte. –
Von der Küche her kam der Geruch der feuchten Wäsche, durch das Schlafstubenfenster aber wehte von draußen herein der Dunst, der dem Spreewinkel so eigentümlich ist: ein Gemisch von Holz- und Torffeuerrauch. Und wer eine so empfindliche Nase wie die kleine Lore Lorenzen hatte, der spürte auch noch, daß es nach Teer, nach Fischbottichen und nach den vielen Katzen roch, die überall vor den dunklen Kellerluken hockten.
Auf der Straße spielten die Kinder die uralten Frühlingsspiele, mit Murmeln und Trieseln oder das geliebte „Himmel und Hölle“. Unter den Spreewinkelkindern hier waren auch ein paar fremde von den Zillen, die an der Fischerbrücke jetzt vor Anker lagen. Auch der große Junge mit den roten gestopften Wollstrümpfen war wieder da, Gustav Holzer hieß er, der Kahn seines Vaters war aus dem Schifferdorf Marienwerder.
Lore mochte den Gustav nicht, er starrte sie immer so an; und dann diese häßlichen, roten, dicken Strümpfe, die ihm so locker um die Beine saßen, so „Wasser zogen“. Als er heute auf die Gasse kam, war sie sofort ins Haus gegangen, mit ihm wollte sie nicht weiterspielen ... Nun saß sie mit einer dicken Schmalzstulle in der Hand an ihrem Bett, starrte die verblaßte Photographie ihres verschwundenen Vaters an und dachte angestrengt nach. Kaum, daß sie den Sonnenstrahl bemerkte, der in der Glasscheibe aufblitzte.
Ja – wenn sie fünf Groschen hätte ... Da könnte man zu Lili Sempers Geburtstagsfeier gehen ... Die fünf Groschen brauchte man dazu, denn man mußte doch ein Geburtstagsgeschenk kaufen. Der gleichen Meinung war auch Mutter Lorenzen. Sie hatte, als sie vor acht Tagen die frischgewaschene und glänzendgebügelte Wäsche ablieferte und Frau Semper dabei die Lore eingeladen hatte, sofort an das Geburtstagsgeschenk gedacht. Freilich hatte sie zu Lore gesagt, eine kleine Stickerei oder Näherei werde es auch tun – das Mädel hatte ja so geschickte Finger – aber sie war sehr nachdrücklich belehrt worden, daß es eine Blume sein müsse.
Ja freilich – eine Blume! Vielleicht so eine schöne rote Tulpe, wie sie der Gärtner im Schaufenster hatte. Aber solch ein Tulpentopf kostete fünf Groschen – hatte der Gärtner gesagt – und das sei noch billig; denn in der vorigen Woche hätte er zehn Silbergroschen dafür bekommen. Aber weil es Frau Lorenzen sei und die Tulpenzeit beinahe vorüber, so wollte er nur fünf Groschen haben.
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