Mit dem Rettungskahn war stundenlang das Wasser abgesucht worden – alles vergeblich! So war damals Lorenzen verschwunden, spurlos. Denn selbst seine Leiche war nicht zum Vorschein gekommen, wie sonst andere Wasserleichen ...
Anna Lorenzen stand etwas schwerfällig auf, ging zur Kommode und nahm aus der Bibel hinten den Zeitungsausschnitt. Beim Schein der Laterne draußen las sie – ach, zum wievielten Mal? –: „Da der von hier gebürtige, frühere Matrose, zuletzt Schiffseigner Johann Friedrich Lorenz Lorenzen, ehelicher Sohn des weiland hiesigen Schiffseigners Carl Theodor Lorenzen und der Auguste Maria Rentner, seit fünf Jahren abwesend von hier ist, ohne daß von ihm oder seinem Aufenthalt irgendeine Nachricht eingegangen wäre, so wird auf Antrag seiner Ehefrau Friederike Anna Lorenzen, geb. Stiege, dieser abwesende Johann Friedrich Lorenz Lorenzen hierdurch geladen, sich im Termin, den 18. Mai n. J., vormittags 11 Uhr, vor dem Königl. Preußischen Stadtgericht allhier entweder in Person oder durch genügend Bevollmächtigte zu melden oder den Ort seines Aufenthaltes anzuzeigen, widrigenfalls der vorstehend benannte Johann Friedrich Lorenz Lorenzen für tot erklärt wird.
Berlin, im November
Königl. Preußisches Stadtgericht“
Nein, Lorenz hatte sich nicht gemeldet, obwohl diese Vorladung in allen Hafenplätzen angeschlagen worden war, und an einem schönen Maitag hatte ihn das Gericht „für tot“ erklärt und seitdem war sie – Friederike Anna Lorenzen geb. Stiege, eine Witwe.
Die kleinen Häuser des Spreewinkels mit ihren schrägen Ziegeldächern und ungewöhnlich tiefen Kellern waren wie alte, zähe Invaliden, die dem Tod schmunzelnd ein Schnippchen schlagen. Sie standen jetzt im Frühlingssonnenschein wie alte Spittelleute, die in Gartenanlagen herumsitzen und die morschen Knochen von den Strahlen wärmen lassen. Die Bewohner lebten bei kümmerlicher Beschäftigung von heute zu morgen, zufrieden schon, daß es überhaupt weiterging.
Die Fischer allerdings, die waren eine Gilde für sich, die ihr gutes Einkommen und lohnende Arbeit hatten. Ihr immer etwas lautes Treiben erfüllte die Uferstraße bis zum Mühlendamm hinunter, dort, wo die Kleiderhändler vor ihren mit alten Uniformen, Pelzen und Anzügen vollgestopften Buden saßen oder standen.
Aber die seßhaft gewordenen Schiffer und ihre Angehörigen, soweit sie nicht in ihre märkischen Dörfer zurückgekehrt waren, schlugen sich eben doch nur mühsam durch mit allerlei Gelegenheitsarbeit. Katzen saßen überall und beobachteten blinzelnd die im Pferdemist hackenden Sperlinge. Auf dem Wasser zogen Zillen gemächlich dahin; aus dem Schornstein auf dem Bäckerhaus stiegen Rauchringel empor und erfüllten, zuweilen vom Winde niedergedrückt, die ganze Gegend mit ihrem Geruch. Auf den Blumenbrettern vor vielen Fenstern oder hinter den Scheiben Myrten, Kakteen oder Oleanderableger – auch in Bierflaschen ... so zeigte sich das Bild des „Spreewinkels“, in dem sich manchmal die Bewohner anderer Stadtviertel einfanden und dann Menschen und Häuser hier anstarrten, als wären sie in eine absonderliche Welt geraten.
Wenn sie dann wohl die Lore erblickten, die in ihrem blauen Kleidchen auf den steinernen Treppenstufen wie die anderen Kinder hockte, so stießen diese und jene sich an – das hier war etwas Besonderes –. Dann aber zog die Kleine meist ihre Holzpantoffeln unter das Röckchen, denn sie fühlte sich unbehaglich. Heute saß sie einsam da und blickte den großen, weißen Wolken nach, die so schnell dahinsegelten. Sie war heute aufgeregt, denn sie wußte, daß die Tochter des Drogisten – Goldkäferschuhe bekommen hatte! – Sie grübelte nun: wie bekomme ich ebenfalls welche, und wenn es irgendwie anging, noch ein bißchen schönere ...? Freilich – Agnes Vater war wohlhabend, er hatte wunderbar große Gläser voll Zuckerkand und Pfefferminzplätzchen. Aber meine Mutter, so stellte Lore weiter fest, war zwar jetzt bloß Waschfrau und früher Dienstmädchen, aber sie hatte eine ganz feine, rote Korallenbrosche und eine Tigermuschel – wenn man die ans Ohr hielt, dann hörte man das Weltmeer brausen ... Wenn das auch alles sehr schön war, so half es Lore doch jetzt nicht darüber hinweg, daß Agnes Goldkäferschuhe besaß und sie nicht ... Das eine war sicher, hier mußte etwas geschehen, und zwar bald, sonst erstickte man ja an dem Knoten, den sie jedesmal im Halse spürte, sobald sie an die Drogistentochter dachte. Das war doch eine ganz Schlaue! Sie hatte sich an Lili Semper herangemacht und war seit dem Geburtstag alle Tage bei ihr. Wenn man nun mal starb – ob dann die Mutter einem vielleicht Goldkäferschuhe in den Sarg mitgeben würde ...? Lore wäre unter diesen Umständen bereit gewesen, sofort zu sterben. Aber jetzt war es zunächst einmal nötig, die alten, schweren Holzpantinen loszuwerden. Daß man einen davon verlieren könnte, das ginge schon – aber beide ...? Und lügen durfte man nicht, das war Sünde. Aber wenn man nun sagte, Lehrer Klaus habe angeordnet, daß alle Kinder von morgen ab mit Goldkäferschuhen in die Schule kommen müßten ...? Dann würde freilich die Mutter wohl zu Frau Niclas in den Gemüsekeller gehen und sich erkundigen, wo denn sie für ihre Marie solche Goldkäferschuhe kaufen werde? Nein – das lieber nicht, denn es war ja nicht sicher, was Marie von den Goldkäferschuhen gehört hatte.
Nein, es mußte schon etwas sein, das jedermann sofort glaubte? Was tun ...?
Mal probieren: „Verflucht und verhext ...!“ Manche sagen doch, das hilft immer.
Und siehe da – es half sofort.
Um die Ecke kam Briefträger Pankraz mit einem großen, schwarzgeränderten Brief gerade auf Lore zu. Sie sah ihn mißtrauisch an und schnüffelte unwillkürlich. Wenn der hagere Mann sonst meist nur nach Leder und Schnupftabak roch, heute duftete er ganz bestimmt tüchtig nach Pech und Schwefel, und wer weiß, was das außerdem noch für ein besonderer Geruch war, den er da um sich verbreitete. In dem schwarzen Brief, den er Lore mit der Weisung gab, ihn sofort der Mutter zu geben, steckten ja nun ganz sicherlich keine Goldkäferschuhe, das konnte man fühlen. Die Mutter war jetzt nicht zu Hause: wenn man mal ein bißchen nachsah, was in dem Briefe drin stand ...? Nein, da war nichts zu machen, denn hinten auf dem Umschlag klebte ein Siegel, schade! Frau Lorenzen wusch heute bei Sempers, zur Aushilfe, denn Frau Palmer, die Waschfrau, konnte es diesmal allein nicht schaffen. Wenn Lore nun hinging und der Mutter den Brief brächte? Daß sie nicht gleich auf diesen Gedanken gekommen war!
Den Brief in der linken, die Pantoffeln in der rechten Hand, lief sie in Strümpfen nach der Breiten Straße. In Strümpfen! – Das war nun ungefähr das Schlimmste, was sie tun konnte.
Die Mutter dachte wahrscheinlich, es brenne zu Hause – denn das war stets ihr erster Gedanke – als Lore in die Waschküche stürmte. Sie mußte sich erst einmal setzen und starrte den Brief fassungslos an, wollte ihn gar nicht öffnen. Denn aus solchen versiegelten Briefen kam ja doch immer Unglück.
Aber schließlich ging sie damit zu Frau Semper, um sich Rat zu erbitten, und als sie zurück in die Waschküche kam, hatte sie rotgeweinte Augen. Sie hörte auch gleich mit der Wäsche auf und sagte Frau Palmer, daß sie ein paar Tage verreisen müsse, denn ihre Schwester Amalie in Brandenburg sei gestorben. Gleichzeitig zeigte sie ein paar Geldscheine, die in dem Briefe gesteckt hatten, damit sie gleich zum Begräbnis kommen könne.
Lore hörte zu und sah mit großen Augen von einer zur anderen. Es tat ihr leid, daß Tante Amalie der Goldkäferschuhe wegen hatte sterben müssen ... Denn es war ja ganz klar: das „Verflucht und verhext!“ vorhin hatte der Teufel gehört, und nun hatte er gleich Tante Amalie sterben lassen. Warum wohl ...?
Und der so furchtbar geizige Onkel Christian hatte der Mutter Geld geschickt ...?
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