Auf der Eisbahn wimmelte es. Steuermann Jens verstand seine Sache. Er hatte eine Musikkapelle zusammengebracht und über die Eisfläche Drähte gespannt, an denen nun bunte Papierlaternen und Flaggen hingen. Wenn es dunkelte, sollte bengalische Beleuchtung gemacht werden. Dann gab’s eine Bude, in der man Punsch und Pfannkuchen bekommen und sich an einem eisernen Ofen auftauen konnte. Bei der Musikkapelle produzierte sich Primaner Perkholz als Kunstläufer. Er hatte wirklich Stege, so daß die Hosen ganz straff saßen und warf die Beine hoch in die Luft, wenn er eine „Acht“ beschrieb. Keiner hatte ihm das bisher so elegant nachmachen können, aber nun erschien da eine junge Dame mit blauem Schleier und flottem Pelzkragen. Sie war außerordentlich fesch und holländerte in so verwegener Weise, daß sie allgemeines Aufsehen erregte. Kühn und verwegen warf sie dem Primaner so feurige Blicke zu, daß er bis ins Herz hinein getroffen wurde und mitten in einer Schleife beinahe zu Fall gekommen wäre, wenn ihm die junge Dame nicht schnell die Hand hingestreckt hätte. Schade – nun konnte man nicht mehr sehen, was weiter daraus wurde, denn nun liefen sie zusammen. Die ganze Bahn machten sie unsicher, und als sie nachher einmal in die Punschbude kamen, konnte man merken, daß ihre Bekanntschaft inzwischen sehr große Fortschritte gemacht hatte. Als ihr der Herr Primaner auf einem Teller einen Pfannkuchen brachte, sagte er: „Bitte, Fräulein Eisfee!“ und sie erwiderte gnädig: „Danke, Herr Eiszapfen!“ Aber diese Namen paßten gar nicht, denn beide sahen sehr feurig aus. Und als sie wieder davonglitten, glichen sie akkurat dem jungen Paar, das man seit Jahren in Glasermeister Müllers Schaufenster auf einem Holzschnitt sehen konnte mit der Unterschrift: „Liebesfrühling auf dem Eise.“ Nachdem das erste bengalische Feuer abgebrannt war, waren die beiden plötzlich verschwunden. Sie wollten noch ein bißchen promenieren, hatte man das Fräulein sagen hören, aber etwas abseits von den vielen Menschen.
Und in der dunklen Uferstraße wurde Johannes Perkholz zudringlich und wollte einen Kuß ... „Nee, hier nich, es jeht hier nich“, sagte die Eisfee, „hier kann man uns ja sehen!“ „Es ist doch aber ganz dunkel!“ „Was haben Sie denn davon – von so ’nem Kuß ...?“ „Ja – ich habe was davon“, sagte der Primaner. „Na, dann – nee, hier lieber nich, aber vielleicht beim Konditor – wenn’s da jeht!“
Es blieb ihm nichts anderes übrig, als die Eisfee zum Konditor zu führen. Dort, auf einem langen, weißgedeckten Tisch, stand der große Weihnachtsbaum gerade so, daß man nicht ins Damenzimmer sehen konnte. Der Primaner fand, daß das sehr gut sei und bestellte zwei Tassen Schokolade mit Schlagsahne. Als die Mamsell hinaus war, fing er wieder vom Küssen an. „Sind Sie denn nicht auch ein bißchen in mich verliebt?“ Die Eisfee meinte, das sei eine etwas komische Frage, auf die ein anständiges Mädchen doch gar nicht antworten könne. „Sie brauchen wirklich nicht zu denken, daß das etwas Schlimmes ist. Meine Kusine Lili Semper, die doch gewiß ein anständiges Mädchen ist, läßt sich von mir küssen, so oft ich bloß will ...“ „So – na ja, die ist auch Ihre Kusine!“
„Und ihre Freundin, die Agnes Bertram, die doch auch ein anständiges Mädchen ist, habe ich ebenfalls schon mindestens zwölfmal geküßt!“ – – – Es war ein Wunder, daß der Weihnachtsbaum durch den heftigen Stoß, den er gerade jetzt bekam, nicht auf Johannes Perkholz gefallen war. Im ersten Augenblick glaubte der Herr Jüngling, daß er ihn wohl in seiner Kußwütigkeit umgerissen habe. Als er sich dann aber umsah, bemerkte er im Damenzimmer seine Kusine Lili, und hinter ihr, auf dem Sofa, lag halb ohnmächtig Agnes Bertram ... „Geh zu deiner Schlange und werde glücklich mit ihr“, sagte im gleichen Augenblick Lili hoheitsvoll und deutete auf Agnes. Dann war ihre Kraft zu Ende. Auf Lores Arm gestützt, wankte sie hinaus.
Lore aber tat es bitter leid, daß sie nicht erst noch ihre Schokolade hatte austrinken können. Aber eins tröstete sie: Nun hatte sie doch Aussicht – endlich, endlich, Lilis einzige Freundin zu werden. – – – Aber ach, das Mädel aus der Friedrichsgracht kannte die feinen Mädchen noch immer nicht.
Denn Lili ließ nichts von sich hören, und als Lore dann eines Tages nach der Breiten Straße ging, um sich nun selbst in Erinnerung zu bringen, war das Dienstmädchen, das ihr öffnete, höchst verwundert. „Fräulein Lili ist verreist!“ sagte das schnippische Ding und drückte gleichzeitig die Tür ins Schloß. Aber das war eine infame Lüge. Denn als Lore am nächsten Tage wieder vorbeikam, hielt gerade die Equipage vor der Haustür, und Lili stieg mit ihren Eltern ein – vielleicht zu einer Spazierfahrt durch den Tiergarten. „Dann soll sie mir den Buckel langrutschen“, dachte Lore. Doch – sie erlebte noch eine weitere Demütigung. Als sie bald darauf die Agnes Bertram traf, sah diese sie nur von oben bis unten an und ging hochmütig an ihr vorbei.
III. Teil
Als endlich das Frühjahr wiederkam, die Dachrinnen Tag und Nacht das Lied von Winters Abschied sangen und aus manchem Hofe das lebensfrohe Krähen eines Hahnes von früh bis in den lichten Abend erklang – als also nun wieder ein neuer Daseinsabschnitt begonnen hatte, hielt es auch Lore an der Zeit, einen tüchtigen Schritt „vorwärts“ zu tun. Eine war da, die ihr diesen Schritt zutraute, weil sie fest an sie glaubte und immer behauptet hatte, daß Lore Lorenzen zu Höherem geboren sei: Marie Niclas, die Tochter der Kartoffelfrau. Sie wußte, daß ihre Freundin eines Tages von aller Welt anerkannt und bewundert werden würde. Diese Anerkennung von „aller Welt“ glaubte Lore nur finden zu können, wenn sie als Lehrmädchen im Putzladen von Fräulein Lohr für die Doktorsfrau oder für Frau Semper oder für sonst eine vornehme Dame aus seidenen Bändern wunderbare Schleifen an Hüten und vielleicht auch an Kleidern anbrachte – „in Phantasie arbeitete“, wie sie es nannte. Aber Lore hütete sich, zunächst von diesen Hoffnungen zu sprechen. Denn sie wußte, daß die Mutter ganz andere Ansichten von der Zukunft der Tochter hatte.
Nein, die nunmehrige Frau Kranold hatte es nicht vergessen, daß sie selbst einmal als junges Ding in den Dienst gegangen war. Und weil sie immer so „treu und fleißig und ehrlich“ – wie es in ihrem Zeugnis hieß – durch all die Jahre gewesen war, hatte ihr Frau Semper jetzt das Anerbieten gemacht, auch ihre Lore einzustellen, um das Silberzeug zu putzen und das Servieren zu lernen. „Und das is ein janz jroßes Jlück – alles andere is man bloß Firlefanz!“ sagte die Mutter immer wieder. Sie wußte ja, was dahintersteckte, wenn das Mädel sich sträubte. Hochmut, weiter nichts. Der Stiefvater hatte ganz recht! Denn daß Lore einmal bei Fräulein Lili eingeladen worden war, das konnte doch kein Grund sein, um dem Fräulein nicht die Schuhe putzen zu wollen. Aber als nun jetzt der Frühling gekommen war und Lore mit Marie Niclas am Spreeufer spazierenging, waren alle guten Lehren der Mutter vergessen. Die schönen Hoffnungen in Lores Herzen erwachten wieder, umgaukelten sie, und es ging einfach nicht anders, als daß man sich mal so richtig mit der Freundin aussprach.
Was sollte nun aus ihr werden?
Ach, es war so trostlos, in die niedrige, dumpfe Stube an der Friedrichsgracht treten und von der Mutter hören zu müssen, daß wieder ein Tag nutzlos verstrichen sei. Nachgerade wurde es freilich auch höchste Zeit, daß man Frau Semper auf ihr freundliches Anerbieten Bescheid brachte. Wenn die Mutter nicht schon die Sache ganz einfach in die Hand genommen hatte, so lag es daran, daß das neue Kleid für Lore noch immer nicht fertig war, um sich darin bei der Herrschaft vorstellen zu können. Als Lore heute fortgegangen war, hatte nur noch der Rock gesäumt werden müssen – morgen also fiel die Entscheidung. Wenn nicht, wie schon so oft in ihrem Leben, ein Wunder geschah. Ein Wunder ...? Hatte sie es denn nicht selbst in der Hand ...? „Denk dir bloß, Marie“, begann sie und hakte sich fester bei der Freundin ein, „nu soll ich bei Sempers. Da hab’ ich das Silberzeug und das feine Porzellan unter mir – jeden Tag kommen Gäste, is jroße Jesellschaft!“ Marie, rot und gesund wie ein Apfel, starrte aus ihren Pudelaugen Lore erschrocken an. „Aber det is doch –“ sagte sie und erzählte nun, daß auch ihre Mutter davon gesprochen habe, sie bei Sempers als Dienstmädchen anzubringen. – Lore durchzuckte es: hier lag die Entscheidung! Hier mußte sie ansetzen, wenn sie ihrem Schicksal einen Stoß geben wollte.
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