Im Jahre 1628 emigrierte Descartes in die Niederlande, in das europäische Land, in dem am ehesten Meinungs- und Religionsfreiheit herrschten. Zugleich waren die Niederlande ein Zentrum des Handels und der Wissenschaften. Hier finden wir ihn im Gespräch mit dem Theologen Abraham Heidanus (1597–1678) und dem Philosophen Adrian Heereboord (1614–1661), mit den Medizinern Cornelius van Hogelande (um 1590–1662), der auch Alchemist war, und Henricus Regius (1598–1679), der Descartes’ erster Schüler werden sollte. Befreundet war er mit Constantijn Huygens (1596–1687), Sekretär des Prinzen von Oranien; und zu dessen Sohn Christiaan (1629–1695) – einem berühmten Physiker – entwickelt sich ein väterliches Verhältnis. Seinen Wohnsitz wechselte er vielfach, möglicherweise, um nicht so leicht auffindbar zu sein – getreu seiner Lebensmaxime »bene vixit, qui bene latuit« (»Gut hat gelebt, wer sich gut [23]verborgen hat«)3. In den Jahren 1623 bis 1629 entwarf er die Regulae ad directionem ingenii ( Regeln zur Leitung des Verstandes ), die jedoch nicht vollendet wurden und erst 1701 im Druck erschienen, die aber beispielsweise Leibniz, der sich eine Abschrift besorgt hatte, schon früher bekannt geworden waren. Anliegen der Regulae ist es, für alle Wissenschaften eine an der Mathematik orientierte Methode zu entwickeln, ein Ansatz, der – scheinbar im Plauderton – 1637 im Discours de la Méthode ( Abhandlung über die Methode, seine Vernunft richtig zu leiten und die Wahrheit in den Wissenschaften zu suchen ) aufgenommen wird. Doch der Discours gilt nicht nur der Darstellung dieser neuen Methode, deren sich jeder Mensch bedienen kann, weil im Grundsatz alle an der Vernunft teilhaben – er entwickelt erstmals das »Ich denke, also bin ich«4. Nun ist diese Schrift als Einleitung zu exemplarischen Beispielen der geplanten neuen Wissenschaft gedacht; sie erschien zusammen mit einer Arbeit zur Lichtbrechung, La Dioptrique , einer zur Geometrie, La Géométrie , in der das entwickelt wird, was wir heute Analytische Geometrie nennen, und einer Abhandlung mit dem Titel Les Météores ( Die Himmelskörper ), in der es um Phänomene am Himmel wie Wolken und den Regenbogen geht. Schon diese Verbindung zeigt, dass Descartes’ Philosophie gar nicht anders als in ihrem Zusammenhang mit den Wissenschaften gesehen werden darf, auch wenn es der Discours war, welcher ihn rasch berühmt machte. [24]Bereits 1632 war die Schrift Le Monde ( Die Welt ) entstanden, die Descartes aber wegen der Verurteilung Galileis (1633) und aus Sorge um Auseinandersetzungen mit der katholischen Kirche nicht veröffentlichte.
Ein erster Entwurf der Meditationes war schon gegen 1634 entstanden; 1641 erschien das Werk unter dem Titel Meditationes de Prima Philosophia ( Meditationen über die Grundlagen der Philosophie, in denen die Existenz Gottes und die Unsterblichkeit der Seele [von der zweiten Auflage an: die Verschiedenheit der menschlichen Seele vom Körper ] bewiesen werden ).
Die Meditationes sind das zentrale philosophische Werk Descartes’, denn in ihm entwickelt er jenen eigenen Ansatz, der als die Begründung des Rationalismus gilt. Vor dem Druck waren sie über Mersenne einer Reihe renommierter Fachleute mit der Bitte um Stellungnahme zugegangen. Diese Einwände stammen neben zwei Sammelberichten, die Mersenne zusammengestellt hatte, von dem Theologen De Kater (Caterus, um 1590–1655), der die Gottesbeweise kritisierte, dem englischen Philosophen Thomas Hobbes, der in seiner materialistischen Seelentheorie die völlige Gegenposition zu Descartes und dessen Unterscheidung von Seele und Körper vertrat, dem Theologen Antoine Arnauld (1612–1694), der sich vor allem mit theologischen Problemen auseinandersetzte, und dem empiristischen Philosophen Pierre Gassendi (1592–1655), der sich gegen Descartes’ These von den eingeborenen Ideen wandte; in der zweiten Auflage von 1642 wurden Kritiken von Pater Pierre Bourdin (1595–1653) hinzugefügt. Sie alle wurden, ergänzt um Entgegnungen Descartes’, zusammen mit den Meditationes gedruckt.
[25]Dass die neue Grundlegung nicht nur philosophische Erwägungen zu tragen vermag, sollen die 1644 erscheinenden Principia Philosophiae ( Prinzipien der Philosophie ) zeigen, in denen Descartes – nach einer kurzen Zusammenfassung der Meditationes – den Versuch unternimmt, die ganze Theorie der physischen Welt auf dem neu geschaffenen Fundament aufzubauen. Dasselbe Ziel verfolgt er für eine Theorie der menschlichen Empfindungen und eine Theorie der Funktionsweise des menschlichen Körpers, beide ursprünglich als Teil der Principia geplant, doch erst mit den 1649 erscheinenden Passions de l’Âme ( Die Affekte der Seele ) und dem postum 1661 veröffentlichten Traité de l’Homme ( Abhandlung über den Menschen ) verwirklicht.
Von drei Frankreichreisen abgesehen, lebte Descartes von 1628 bis 1649 in den Niederlanden. Aufgrund einer Einladung der Königin Christine von Schweden (1626–1689), der zu folgen er mehrfach hinauszögerte, die aber immer drängender vorgetragen wurde, reiste er im Herbst 1649 nach Stockholm. Doch die Monarchin war viel zu beschäftigt, um sich der Philosophie zu widmen; erst Mitte Januar des folgenden Jahres fand sie Zeit, sich dreimal die Woche, morgens um fünf Uhr, in Philosophie unterweisen zu lassen. Descartes, von Natur alles andere als ein Frühaufsteher, holte sich zu so nächtlicher und eisiger Stunde eine Lungenentzündung, und da er allen Ärzten misstraute und deren Hilfe von sich wies, starb er nach neun Tagen, am 11. Februar 1650. Dass dies in Wirklichkeit kein natürlicher Tod, sondern ein Mord gewesen sei, heraufbeschworen durch das angespannte Verhältnis von Protestanten und Katholiken am schwedischen Hof, wird immer wieder behauptet, auch wenn die Indizien dafür sehr schwach sein [26]mögen. – Sechzehn Jahre später wurden Descartes’ sterbliche Überreste nach Frankreich überführt. Schon drei Jahre zuvor waren seine Schriften auf den Index gesetzt worden, während sich sein Denken, sein Wissenschaftsverständnis und seine Philosophie über ganz Europa ausbreiteten. Von Holland und dort insbesondere von den Medizinern weitergetragen, erfasste es in einem halben Jahrhundert praktisch alle Universitäten: Der Cartesianismus hatte sich auf dem Kontinent als neue, die Wissenschaften begründende Weltsicht durchgesetzt.
[27]3 Die Methode der Analyse und Synthese
Wenn das Ziel des Rationalismus der Erweis der Verstehbarkeit der Welt und insbesondere die Begründung unseres Wissens ist, so bedarf es einer Methode, welche die Sicherheit eines jeden Schrittes gewährleistet. Sie entwickelt zu haben, gilt in der Geschichte der Philosophie als eines der hauptsächlichen Verdienste Descartes’.5 Erst ein methodisches Vorgehen lässt aus einzelnen, isolierten Wissensbeständen eine wissenschaftliche Aussage entstehen. Mehr noch: Wenn Erkenntnis auf richtigem Denken beruht, so werden die Regeln des richtigen Denkens, die Kriterien der Wahrheit und die Methode der Erkenntnisgewinnung und -sicherung zum Zentralproblem schlechthin.
Das, was Descartes zum Methodenproblem zu sagen hat, ist im Discours de la Méthode bei weitem nicht so konzipiert, wie man angesichts der Bedeutung des methodischen Zugangs hoffen sollte; es empfiehlt sich deshalb, zum besseren Verständnis vom unvollendeten, postum veröffentlichten Frühwerk der Regulae auszugehen.
3.1 Die Regulae ad directionem ingenii
Descartes’ methodologische Schrift der Regulae ad directionem ingenii , an der er 1623 und noch einmal 1628 arbeitete, weist hinsichtlich ihrer Deutung in der Literatur in zwei gänzlich verschiedene Richtungen. Während ein größerer Teil der Interpreten in ihr die Vorbereitung jener knappen [28]vier methodischen Regeln erblickt, die Descartes im Discours de la Méthode formulieren sollte, sehen andere einen derart radikalen Umbruch zwischen beiden Schriften, dass Descartes »frühestens im Winter 1628/29 zum Cartesianer wird«, denn die Regulae beruhten »auf Prinzipien, die mit der Philosophie Descartes’ nach 1629 im Widerspruch stehen«.6 Beide Auffassungen haben gute Gründe für sich; da aber Descartes selbst nicht von einem radikalen Bruch spricht, sondern mehr die Kontinuität seines Denkens betont, soll hier der Versuch unternommen werden, eher das Verbindende zu sehen, ohne allerdings die Differenzen beiseiteschieben oder leugnen zu wollen.
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