In den Augen vieler Gemeindemitglieder, unter denen ich aufwuchs, waren diese neuen Vergnügungen und Verhaltensweisen einfach nur Teufelszeug. Man suchte Sicherheit in traditioneller Gesetzlichkeit. Die Röcke der Mädchen waren zu kurz, die Absätze ihrer Schuhe zu hoch und die Haare der Jungs zu lang, zu frech waren wir alle.
Wir hatten keinen Respekt vor den Eltern mit ihren traumatischen Kriegserlebnissen. Die Folgen des sogenannten Tausendjährigen Reiches waren in vielfältiger Weise gegenwärtig. So lag das Verhältnis zwischen Männern und Frauen im heiratsfähigen Alter irgendwo bei 1 : 3. Männer hatten die freie Auswahl. Und sie konnten sich den Frauen gegenüber fast alles herausnehmen. Kaum eine erwachsene Frau traute sich, den Mund aufzumachen. Frauen hatten es schwer, ihren Lebensunterhalt als Single (das nannte sich damals alleinstehend) zu verdienen. Verheiratete Frauen brauchten eine schriftliche Genehmigung ihres Mannes, um zusätzlich zu Haushalt und Kindern arbeiten gehen zu dürfen. Unverheiratete Frauen waren froh, wenn sie einen Job als Putzfrau, Verkäuferin oder Schreibkraft bekamen. Unsere Elterngeneration, die selbst um ihre Jugend betrogen worden war, stand nun fassungslos vor diesen jungen Menschen, für die es keine Grenzen mehr zu geben schien. In Kirchen und Gemeinden versuchte man, alldem mit einem überdimensionalen moralischen Zeigefinger zu begegnen, hinter dem das Kreuz und die Liebe Gottes kaum noch auszumachen waren.
Mein Vater war Architekt und Prediger. Er selbst hatte eine problematische Kindheit, hatte nie ein behütetes Zuhause erlebt. Meiner Mutter ging es oberflächlich betrachtet besser, doch traumatisiert von Bombennächten und psychischem Terror der Nazizeit waren sie beide. Aus heutiger Sicht wuchsen sie in einer katastrophalen Überforderungssituation auf. Unsere Eltern, die Kriegsgeneration, versuchte irgendwie, mit der Vergangenheit klarzukommen.
Die Nachkriegsgeneration, wir Kinder des Wirtschaftswunders, stellten alles infrage. Alles schien möglich. Wir wollten die Zukunft gestalten. Mit über 60 fange ich heute an zu verstehen, wie schwierig die damalige Zeit für beide Generationen war. Die Eltern wollten und konnten kaum Vorbilder sein. Wir Kinder hatten nichts, woran wir hätten anknüpfen können. Die bisherigen Gesellschaftsmodelle hatten versagt, hatten in die Katastrophe geführt. Wer nur von Führung oder Leitung sprach, machte sich verdächtig. Alles, was nur nach Autorität und Leitung roch, stellten wir infrage. Da kam jede neue Idee, jeder unkonventionelle Lebensentwurf gerade recht. Die Kritik an den Eltern, an der Tradition, an allem Althergebrachten gehörte für meine Generation zum guten Ton. Wurden wir, die Jugend, von den Alten, der Kriegsgeneration, kritisiert, so bestärkte uns das nur darin, auf dem richtigen Weg zu sein.
Wir, wir als Gesellschaft, tragen bis heute an dieser Last der unbewältigten Vergangenheit. Das meine ich nicht als Schuldzuweisung. Ich sehe es als ganz objektive Feststellung: Wir alle tragen immer noch an dieser Last; auch wenn es den meisten nicht bewusst ist. Und doch sind es Rahmenbedingungen, in denen JHWH handelt.
JHWH liebt es, uns in scheinbar ausweglosen Verstrickungen zu begegnen. Und uns zu zeigen, dass ER manches ganz anders sieht, als wir denken.
Als Kind hatte ich angefangen, JHWH Vertrauen zu schenken. Ich sehnte mich nach der Liebe und Annahme, von der viel gepredigt wurde. Die real existierende Gemeindewirklichkeit sah für mich ganz anders aus. Das Leben meines Vaters als Prediger und das seiner Familie wurde von der Gemeinde genau beobachtet. Die moralischen Vorstellungen der Gemeinde und meiner Eltern einerseits und die Verlockungen der Rock’n’Roll-Ära andererseits rissen mich in tiefe Konflikte. Mit 15 fing ich das Rauchen an. Leider hatte meine Mutter eine gute Nase. Weder Zahnpasta noch Pfefferminz konnten meine zaghaften Nikotin-Ausflüge verheimlichen. Die Verbote und Strafen waren wohlgemeint, doch stürzten sie mich nur tiefer in den Konflikt mit meinen Eltern; Lügen und Flucht, wo immer möglich, waren die Folge. So verknüpfte sich mein Rauchen mit einem schlechten Gewissen als Dauerzustand. Beides, der Nikotinkonsum und das schlechte Gewissen wuchsen stetig. Daran änderte sich auch nicht viel, als ich volljährig wurde. Meine Eltern konnten es mir nun nicht mehr verbieten, aber die Kritik aus der Gemeinde blieb. Im Gemeindehaus nicht rauchen zu dürfen, klar, das konnte ich nachvollziehen. Aber ich wurde auch angehalten, vom Gemeindehaus eine Bannmeile einzuhalten, damit das Ansehen der Gemeinde nicht beschädigt würde. Kann man sich heute kaum mehr vorstellen. Heute stehen dort, wo ich früher nicht rauchen durfte, eine Bank und ein Aschenbecher.
Schon damals hörte man immer öfter von den negativen gesundheitlichen Folgen des Rauchens. Das Geld für die Zigaretten hatte ich eigentlich auch nicht. So hörte ich mit dem Rauchen auf. Und fing wieder an. Und hörte wieder auf. Mal einen Tag, auch mal ein paar Wochen, einmal sogar zwei Jahre. Dann eine einzige Zigarette nach einem guten Essen. Danach vier Wochen ohne Nikotin. Nun, so dachte ich, hätte ich es geschafft und ich könnte es mir leisten, ab und zu mal eine zu rauchen. Ein Vierteljahr später waren es wieder zwei Päckchen am Tag. Wie Mark Twain sagt: Mit dem Rauchen aufzuhören ist kinderleicht, habe ich schon hundert Mal gemacht.
Eines Tages hörte ich eine Predigt über die Zehn Gebote. Was der Prediger sagte, weiß ich nicht mehr. Aber als er über das vierte Gebot sprach, durchzuckte es mich wie ein Blitzschlag. Das vierte Gebot ist nachzulesen in L1912 (die Abkürzung verweist auf die zitierte Bibel-Übersetzung, siehe das Abkürzungsverzeichnis, Seite 3, oder die Rückseite des Lesezeichens, Seite 439), 2. Mose 20:12, :
Du sollst deinen Vater und deine Mutter ehren, auf dass du lange lebest in dem Lande, dass dir der HERR, dein Gott, gibt.
Meine Eltern ehren? Das konnte und wollte ich nicht. Ich meinte, sie hätten das nicht verdient. Und was hat das mit langem Leben zu tun? Ich meinte, eine gesunde Lebensweise würde mein Leben verlängern. Es war, als zöge mir jemand eine Decke von den Augen. Ich begriff, dass JHWH keinen Gefallen daran findet, wenn wir rauchen. Jetzt aber ging es IHM um etwas ganz anderes: JHWH hatte SEINEN Blick auf meine Haltung zu meinen Eltern gerichtet. ER zeigte mir, IHM ist wichtig, dass ich meine Eltern ehre! Um das zu betonen, stellt JHWH in diesem Gebot diese große Belohnung, das lange Leben im Lande JHWHs, in Aussicht. ER sagte mir, dass ein gesundes Leben gar nichts bringt, solange ich mich nicht an SEINE Gebote halte. JHWH hat ganz andere Schlussfolgerungen, ganz andere Gesetzmäßigkeiten, als wir uns das vorstellen. Nicht: Gesund leben, um lange zu leben. Sondern: Eltern ehren, um lange zu leben.
JHWHs Verheißungen haben oft Voraussetzungen, und die erscheinen uns manchmal völlig unlogisch. Aber es lohnt sich, unseren Vater in den Himmeln beim Wort zu nehmen!
Zwei Dinge nahm ich aus diesem Gottesdienst mit nach Hause: Ich konnte zum ersten Mal in meinem Leben ohne schlechtes Gewissen rauchen, ich konnte es genießen. Es wurde mir zu einer Selbstverständlichkeit, auf andere Rücksicht zu nehmen, andere nicht zu belästigen, nicht in Häusern und Wohnungen zu rauchen, wo Nichtraucher anwesend waren. Das Rauchen hatte seine Zwanghaftigkeit verloren. Ich wusste, dass JHWH mich eines Tages wieder auf das Rauchen ansprechen würde. Aber bis dahin erfreute ich mich an dem ungetrübten Genuss, den ich vorher nie gekannt hatte.
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