„Gehen Sie nur den Gang vor und klopfen Sie dann an der dritten Tür links, dort wird man Ihnen Bescheid geben!“
„Aha“ — denkt sich das Mädchen — „das wird der Arbeiter von der Firma Sarasate & Co. sein, der hier oben Mass nehmen soll. Sie erhebt sich von ihrem Stuhl am Fenster und geht nach der Tür zu. In demselben Augenblick klopft es draussen.
Das Mädchen öffnet, vor ihr steht — Alvaro....
Kein Zweifel — er ist es. Seine Augen, das kurze, kraus gelockte Haar, seine ganze Haltung und seine Gesichtszüge, es sind die ihres Geliebten, an den sie soeben noch gedacht hat und der nun mit einem Male leibhaftig vor ihr steht und diese geschickte Verkleidung gewählt hat, um sich unbemerkt in der Stadt aufzuhalten und sich ihr zu nahen.
„Alvaro — —!“ schreit sie auf. Schmerz und Sehnsucht, Schreck und Verlangen sind in diesem leidenschaftlichen Ruf vereint.
Und bereits im nächsten Augenblick liegt Micaëla in den Armen des Mannes, der sie umfängt und rasch an sich zieht.
Sie schliesst ihre Augen und erwartet seine Küsse....
Doch jenen Ruf des Mädchens vernahm auch das Ohr des alten Henoch, der schnell seine Feder hingeworfen hat und durch die Tür hindurch den Gang hinunter nach Micaëlas Zimmer jagt. Er sieht deren Tür offen und erblickt gerade, wie ein fremder Mann sein Pflegekind in seinen Armen hält.
Mit einem tigerähnlichen Sprung fährt der Jude auf das Paar los und packt den Mann beim Kragen.
„Zurück, Du Spitzbube! Was fällt Dir ein, meine Tochter zu küssen? I, Du Diebsgesicht, Du Galgenstrick, Du hast Dich hier eingeschlichen, na warte, ich dreh’ Dir den Hals um!“
Der Fremde macht eine rasche Bewegung und kommt dem Antiquar unmittelbar gegenüber zu stehen, so dass ihm dieser voll ins Gesicht sehen kann.
„Was,“ schreit Henoch, „Sie hier, Herr Alvaro! Nun, das nenne ich wirklich Kavaliersart, das muss ich sagen! Sie schleichen sich hier in der Maske eines Arbeiters in mein Haus ein, um mein Kind zu überrumpeln. Sie wollten wohl Ihren toten Onkel beerben, deswegen sind Sie scheinbar geradeswegs von Amerika herübergekommen? Das ist ja fein, Herr Leutnant, oder wie Sie sich jetzt nennen mögen! Nun ist es aber genug — jetzt hinaus mit Ihnen! Für Schuldenmacher und Mädchenverführer gibt es in meinem Hause keinen Platz! Hinaus! sage ich nochmals.“
Vater Henoch sah ehrfurchtgebietend in seinem fast biblischen Zorn aus, mit dem er seine Hausehre verteidigte. In seiner Wut hatte er einen Schemel ergriffen und drang damit auf den Fremden ein.
Dieser war mit einer schnellen Bewegung zur Seite getreten, so dass er unmittelbar an der Schwelle der noch halboffenen Tür stand, seine Augen blitzten und mit finster gerunzelter Stirn blickte er auf den alten Mann, der Miene machte, ihn jetzt tätlich anzugreifen.
Micaëla stand mit todblassem Gesichte und vor Aufregung zitternd im Hintergrunde des Zimmers und war keines Wortes fähig. Als sie sah, wie ihr Pflegevater sich auf den Fremden stürzen wollte, schrie sie: „Tue ihm nichts, Vater, es ist ja Alvaro. Er liebt mich, er wollte nur ....“
Da erscholl ein hartes, kurzes Auflachen aus dem Munde des Arbeiters, dessen rechte Hand blitzschnell nach seiner Hosentasche fuhr.
„Haha — schönes Kind, ich danke Euch, dass Ihr für mich Partei ergreift, das ist recht von Euch. Doch Ihr irrt, ich bin kein Alvaro; na jedenfalls auf Wiedersehen!“
„Hund, infamer!“ brüllte jetzt Henoch und drang abermals mit dem Schemel auf den Fremden ein.
„Zurück!“ schrie dieser, und im nächsten Augenblick starrte dem Juden der Lauf eines Revolvers entgegen.
Micaëla stiess einen Schrei aus und warf sich vor ihren Vater.
„Sieh Dich vor, alter Filz, ich komme wieder! Geduld, mein Täubchen, ich werde Dich bald von Deinem Haustyrannen befreien. Adios, wir sehen uns bald wieder!“
Bei diesen Worten warf der Mann dem Mädchen eine Kusshand zu und verschwand blitzschnell durch die Tür. Dann lief er den Gang hinunter, und man hörte noch seine eiligen Tritte.
Vater Henoch war so erregt, dass er kaum Atem schöpfen konnte, und es dauerte eine Weile, ehe er sich gefasst hatte. Dann stürzte er an Micaëla vorbei den Gang entlang und die Treppe hinunter, die von diesem hinab nach dem kleinen Hof führte.
„Du Elender,“ knirschte er dabei zwischen den Zähnen, „wenn ich Dich jetzt erwische, so schlage ich Dich zu Brei.“ Aber Henoch mochte sich noch so sehr im Hofe die Augen ausgucken, er konnte nichts mehr von dem fremden Arbeiter erblicken.
Erschöpft von all der Aufregung kehrte er über die Hoftreppe wieder in den Laden zurück. Der Gehilfe hatte den Lärm oben wohl gehört, sich jedoch vor Angst im Laden versteckt und trat jetzt bleich und zitternd vor Furcht seinem Brotherrn entgegen.
Dieser lief auf die Strasse hinaus und rief nach der Polizei. Doch merkwürdig — es war weit und breit kein Diener der heiligen Hermandad zu erblicken.
Mit einer leisen Verwünschung auf den Lippen kehrte Henoch wieder in sein Haus zurück. Kurz darauf kam auch seine Frau heim, und es war gut so, denn Micaëla war von all der Aufregung erkrankt. Man musste ihr einen beruhigenden Trank bereiten und sie zu Bett bringen.
Dem alten Henoch liess es keine Ruhe, er bewaffnete sein ganzes Geschäftspersonal und suchte mit zwei grossen Laternen das Haus vom Keller bis zum Boden ab. Jeder Winkel wurde abgeleuchtet, doch vergeblich. Es war nichts von dem geheimnisvollen Eindringling zu entdecken.
Henoch hatte seiner Frau die ganzen Begebenheiten erzählt. Das Ehepaar verbrachte eine schlaflose Nacht.
War es wirklich Alvaro, der diese seltsame Verkleidung gewählt hatte, um sich Micaëla zu nahen, und den nur der Zornesausbruch des alten Juden gereizt und zum Rückzug gezwungen hatte? Welch eine neue Sorge trat da mit einemmale an die beiden Alten heran ...
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