Wiederholt zeigte der Buddha in seinen Lehrreden ambivalente, manchmal selbst hartherzige, wenig emphatische Gefühle gegenüber Kindern. Sasson erwähnt eine weitere schockierende Geschichte aus den alten Texten:
»Der Mönch Sangamanji wird von seiner Frau angesprochen, die er samt des neugeborenen Kindes vor kurzem verlassen hatte. Sie fleht ihn an, nach Hause zurückzukehren,
Abb. 12: Sandburgen bei Ebbe. Wenn die Flut kommt, werden die Burgen vom Meer weggewaschen und werden wieder zu Sand. Kinder erkennen diesen Prozess als ein Symbol der Vergänglichkeit und der Veränderung – üblicherweise zerstören sie ihre Burgen nicht selbst, sondern beobachten, wie sie weggespült werden.
aber er reagiert nicht. Daraufhin legt seine Frau das Kind vor seine Füße, in der Hoffnung, dass der Anblick des eigenen Kindes ein Gefühl der Verantwortung für die Familie wachruft. Jedoch wartet der Mönch passiv darauf, dass dieses Szenario zu Ende geht. Als die Frau endlich aufgibt und mit ihrem Kind nach Hause zurückkehrt, lobt der Buddha den Mönch für seine außergewöhnliche Zurückhaltung (und verurteilt die Frau für ihr unangemessenes Verhalten). Es ist nicht verwunderlich, dass Buddhismus als familienunfreundlich bezeichnet wurde« (Sasson 2013, S. 2–3; Zitate aus Udana 5–6).
Diese Beispiele sollten ausreichen, um zu zeigen, dass der Buddha mit diesen Ansichten heutzutage kein guter Kinderpsychotherapeut oder Familientherapeut wäre. In der heutigen Zeit würden seine Ansichten von Kindern, die er als getrieben von Instinkten und Verlangen sieht, als zu rigide und beschränkt gelten. Im Buddhismus hatten Verzicht, Entsagung und ein klösterliches Leben oft eine höhere Priorität als Familie oder die Bedürfnisse und Rechte von Kindern und Frauen. Gleichzeitig zeigen diese Beispiele, dass auch der Buddha ein Mensch mit blinden Flecken und Schwächen ist, nicht unfehlbar, sondern sehr menschlich.
Das Symbol der Geburt in den Lehren des Buddha
Wenn man durch das Inhaltsverzeichnis der vielen Lehrreden des Buddha schaut, taucht das Stichwort oder Symbol des Kindes nicht auf (Buddha, Connected Discourses Band 1 und 2, 2000; Middle Length Discourses 1995; Long Discourses 1995). Ist das nicht merkwürdig? Auf der hervorragenden Website mit dem Namen Access to Insight ( www.accesstoinsight.org) findet sich nur eine Lehrrede, die oben erwähnte Satta Sutra mit den Sandburgen, die sich auf Kinder bezieht.
Die einzigen assoziierten Begriffe die wiederholt auftauchen sind die, die auf Geburt verweisen (in der alten Sprache Pali »Jati« genannt). Jedoch wird die Geburt nicht als ein hoffnungsvoller Anfang gesehen, sondern als ein negatives Ereignis, das unweigerlich die Folgen von Alter, Krankheit und Tod nach sich zieht. Warum wird Geburt so negativ gesehen?
Zum einen beinhaltet Geburt im buddhistischen Zusammenhang die Vorstellung von Wiedergeburt. Obwohl der Buddha selbst nicht metaphysische Fragen beantwortete oder kommentierte und den Begriff der Wiedergeburt weder bejahte noch ablehnte, ist die Wiedergeburt für viele Gläubige ein wesentlicher Aspekt der buddhistischen Religion. Wenn es das Ziel ist, Erleuchtung zu erlangen und Wiedergeburt zu vermeiden, dann ist die Geburt an sich eine Bestätigung, dass dieses hohe Ziel noch nicht erlangt wurde.
Zum anderen ist es wichtig zu verstehen, in welchem Kontext der Begriff »Geburt« verwendet wird. Ein wichtiger Aspekt der Lehren des Buddha ist der Begriff des »abhängigen Entstehens«. Der Begriff des abhängigen Entstehens besteht aus zwölf Gliedern, von denen eines als Geburt (oder »Jati«) bezeichnet wird. Es ist dabei sowohl die Geburt im wörtlichen Sinne von Geburt und Wiedergeburt wie auch im übertragenen, symbolischen und psychischen Sinne der Prozess, bei dem etwas Veränderliches in etwas Permanentes übertragen wird.
Diese Konzepte sind kognitiv sehr schwer zu verstehen, aber sie sind durch Meditation und Reflexion zugänglich. Ohne sich in Einzelheiten zu verlieren, ist die Grundaussage des Buddha, dass alle Phänomene als Folge von Bedingungen und Gegebenheiten entstehen. Alle relativen Phänomene des Lebens sind an sich nicht problematisch – sie kommen und gehen wie die Wolken und wie alle anderen sich verändernden Elemente der Natur, d. h., sie sind unbeständig. Die Schwierigkeiten entstehen dann, wenn man an etwas festhalten möchte, dass sich nicht festhalten lässt. In diesem Augenblick wird etwas zu einem Objekt, zu einer Substanz, zu etwas Festem, das dann durch die unvermeidliche symbolische Sequenz von Geburt, Altern, Krankheit und Tod läuft. In buddhistischen Lehren kann Erkenntnis diesen Prozess anhalten. Ohne Ergreifen, Festhalten und Klammern kann Leben in seiner Veränderbarkeit seinen Weg nehmen, ohne zum Problem zu werden.
Auch dies mag kognitiv schwer zu verstehen sein, jedoch erklären die Zusammenhänge, warum Geburt in buddhistischen Lehren nicht als Lösung betrachtet wird, ganz im Gegensatz zur christlichen Tradition. Während das Symbol der Geburt im Christentum für positive Hoffnung auf Erlösung und Trost steht, wird es im Buddhismus als ausweglose Zwickmühle erkannt, sofern man nicht wachsam ist und an den Objekten des Lebens festzuhalten beginnt.
Eine kurze Lehrrede (die Cala Sutra) des Buddha verdeutlicht diesen Punkt sehr gut (Buddha, Connected Discourses Band 1, 2000, S. 226). Mara, die buddhistische Entsprechung des Teufels, wendet sich an eine Nonne mit dem Namen Cala und fragt sie, was sie nicht befürwortet. Darauf antwortet sie: »Ich befürworte die Geburt nicht, mein Freund.« Daraufhin fragt Mara:
»Warum kannst du die Geburt nicht gutheißen?
Sobald geboren, genießt man Sinnesfreuden.
Wer hat dich zu der Aussage überredet:
›Nonne, befürworte nicht die Geburt?‹«
Daraufhin antwortete Cala weise:
»Für denjenigen, der geboren wurde, gibt es Tod;
einmal geboren, begegnet man Leiden –
Unfreiheit, Mord und Elend –
aus diesem Grund sollte man die Geburt nicht befürworten.
Der Buddha hat das Dharma gelehrt,
die Überwindung von Geburt;
um alles Leiden abzulegen,
hat er mich in die Wahrheit verankert.
Diese Lebewesen jedoch, die mitten in der Form leben,
und diejenigen, die in der Formlosigkeit verbleiben –
ohne die die Möglichkeit, Erlösung zu verstehen,
werden sie in einer neuen Existenz wiederkommen.«
Daraufhin erkannte Mara, der Teufel, dass die Nonne Cala ihn durchschaut hatte und verschwand auf der Stelle, traurig und enttäuscht. Es ist deutlich erkennbar, dass das Symbol der Geburt in der Lehre des Buddha eine völlig andere Bedeutung hatte, als es Eltern bei der Geburt ihres Kindes erleben.
Als Kinderarzt hatte ich während meiner Ausbildung in der Neugeborenen-Medizin das Privileg, Hunderte von Geburten zu erleben. Diese waren jedoch keine einfachen, normalen Geburten, sondern Hochrisikoentbindungen, die die Anwesenheit eines Kinderarztes erforderten. Ich kann mich gut daran erinnern, wie ich außerhalb des Operationssaales stand und das rasche, präzise operative Vorgehen beim Kaiserschnitt beobachtete. Die Hebamme übernahm das Baby und trug es, in Stoff gehüllt, nebenan zum Kinderarzt. Ich übernahm dann das Neugeborene zusammen mit einer Kinderkrankenschwester.
Manche Babys waren sehr schwer krank und benötigten sofortige, intensive medizinische Hilfe. In einem professionellen Ablauf wurden sie abgesaugt, untersucht und intubiert. Eine Infusion wurde gelegt und der Transport auf die Neugeborenen-Intensivstation wurde vorbereitet.
Allerdings war dies bei manchen Neugeborenen nicht notwendig. Alles, was erforderlich war, war den Schleim abzusaugen, für Wärme zu sorgen und etwas Sauerstoff bereitzustellen, sie zu beobachten und die ersten Atemzüge des Lebens wahrzunehmen. Dieses waren ausgesprochen bereichernde Momente der Gelassenheit, Freude und Stille. Oft war ich über das Wunder eines neuen Menschenlebens zu Tränen gerührt. Geburt hat immer eine positive Konnotation für mich. Dies ist auch der Grund, warum ich große Schwierigkeiten mit der negativen Bedeutung von Geburt in den Lehren des Buddha habe.
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