Der Raum ist kahl und unfreundlich. Er besteht aus einem Tisch, zwei Stühlen und einer als Aschenbecher verwendeten Konservenbüchse. Er besteht weiter aus einer zu kurz bemessenen Gardine und dem Bild des amerikanischen Präsidenten an der Wand.
Ohne ein Zeichen von Ungeduld läßt Colonel Evans stundenlang die Erzählung des deutschen Häftlings Werner Eckstadt über sich ergehen. Er macht sich ab und zu Notizen und bedeutet gleichzeitig mit einer Handbewegung dem Untersuchungsgefangenen in der zerschlissenen Wehrmachtsuniform, weiterzusprechen.
Der Colonel kennt sich aus im Umgang mit Gefangenen. Gewöhnlich merkt er jedes Zögern, jede Beschönigung, jede Übertreibung, jede Lüge. Hinter seiner gleichgültigen Miene verbirgt sich gespannte Aufmerksamkeit. Der Oberst weiß, ohne es sich einzugestehen, daß er froh wäre, wenn er Werner Eckstadt bei einer Lüge fassen könnte … wenn diese ungeheuerlichen Vorwürfe gegen eine amerikanische Anklagevertretung, gegen eine offizielle Institution seines Landes, haltlos zusammenbrächen. So stellt er mit verborgenem Mißmut fest, daß er beginnt, dem armseligen Soldaten Glauben zu schenken.
Colonel Evans steht auf, geht an die Türe, winkt den an der Wand lehnenden GI heran.
„Holen Sie mir zwei Flaschen Coca-Cola“, sagt er.
„Yes, Sir“, antwortet er, „aber der Häftling darf kein Coca-Cola trinken.“
„Führen Sie gefälligst den Befehl aus!“ brüllt ihn der Colonel zusammen. „Und vergessen Sie die Gläser nicht.“
Der Soldat braucht zehn Minuten. Vermutlich hat er sich inzwischen noch beim Anstaltskommandanten beschwert. Er stellt unlustig die Gläser auf den Tisch, wirft im Vorbeigehen Werner einen bösen Blick zu. Der Oberst schenkt ein.
„Nehmen Sie“, sagt er zu Werner.
Und weiter geht die Vernehmung. Wieder dauert sie Stunden. Wieder kommt Werner alles kreuz und quer über die Zunge. Plötzlich verliert er die Nerven, springt auf, schreit:
„Hat ja alles keinen Sinn! Gehen Sie, Sir! Sie glauben mir nicht. Sie dürfen mir gar nicht glauben.“ Seine Augen sind starr. Blaue, eckige Adern treten an seiner Stirn hervor. Speichel sitzt in seiner linken Mundecke. Die Haare hängen ihm in die schweißnasse Stirne. „Das darf für Sie ja gar nicht wahr sein!“
Er plumpst auf den Stuhl zurück. Der Kopf sinkt auf seinen Arm. Das Geschrei geht in Röcheln über.
„Sie sind ja Amerikaner“, stößt er hervor. „Sie können mir ja doch nicht glauben!“
Der Oberst betrachtet die Szene kalt und distanziert. Er steht auf, geht an das Fenster, öffnet es, schließt es im nächsten Augenblick wieder, dreht sich um.
„Sie sind müde“, erwidert er, „ruhen Sie sich eine Stunde aus, dann komme ich wieder.“
Er ruft den Posten.
Werner Eckstadt wird in seine Zelle zurückgebracht. Für eine Stunde, für 60 Minuten, für 3600 Sekunden …
Werner Eckstadt läßt das Essen stehen. Seine Gedanken gehen im Kreise herum. Er schiebt angewidert die Schüssel mit dem grauen Fettbrocken zurück. Ich Idiot, denkt er verzweifelt, und da stoße ich den einzigen Menschen, der seit meiner Verhaftung mich wenigstens anhörte, vor den Kopf.
Blitzartig ziehen die Stationen der Hölle an ihm vorbei: die Versetzung zur SS, der Absprung mit dem Fallschirm, die Szene vor dem Tigerpanzer, der Angriff der „Lightnings“. Damals stand er mit Wieblich, dem Richtschützen, an der Waldschneise. Der Wind hatte die Wolkendecke endgültig aufgerissen. Der Himmel wurde zum Rangierbahnhof für amerikanische „Lightnings“. Wo immer sich Fahrzeuge zeigten, wo Soldaten in Gruppen beieinanderstanden, krepierten die Bomben der Flugzeuge.
„Aus der Bescherung sind wir ja rechtzeitig entwischt“, grinste Wieblich zufrieden. Der Mann begriff, was die deutsche Generalität, die mit der Ardennenoffensive den Krieg gewinnen wollte, nun auch einsehen mußte. Sowie die amerikanischen Tiefflieger wieder freies Schußfeld hatten, knallten sie den Weihnachtsangriff in tausend Fetzen.
Jetzt blieben die deutschen Panzer nicht nur wegen Spritmangels liegen. Das Ende des letzten deutschen Vorstoßes war ebenso rasant wie sein Beginn …
Auf den Straßen verendeten, brennend, zur Seite gekippt, die Panzer, die SPWs, die Sturmgeschütze, die Spähwagen. Nun spritzten die Körper zerfetzter deutscher Soldaten auseinander wie vor Stunden noch die ihrer Feinde.
Aber davon sahen Eckstadt und Wieblich zunächst nicht viel. Es entging ihnen auch etwas anderes. Sie wußten nicht, daß es immer noch wahnsinnige, anonyme Mörder gab, die, ihrem niedrigen, gemeinen Instinkt folgend, wahllos Menschen schlachteten … um wenigstens eine Erinnerung aus dem letzten deutschen Angriff mit nach Hause zu nehmen: die Erinnerung an die freigegebene Treibjagd auf Kriegsgefangene.
In diesen Tagen erschoß ein Oberscharführer zehn amerikanische Kriegsgefangene, mit denen er sich vorher unterhalten hatte …
In diesen Tagen knallten aufgesessene Infanteristen von Panzerfahrzeugen aus belgische Frauen nieder, die an der Dorfstraße standen …
In diesen Tagen wurden amerikanische Kriegsgefangene erschossen, weil sie verwundet waren und weil man sich nicht um sie kümmern wollte …
Und all diese Verbrechen tobten sich in einem engen Kreis um die belgische Stadt Malmedy aus.
Während dies geschah, füllten sich die Wälder mit versprengten deutschen Soldaten. Eckstadt und Wieblich blieben nicht lange allein. Erst war es ein kleiner Haufen, dann ein großer, schließlich ein halbes Bataillon. Auch Offiziere waren dabei.
Wenn Offiziere dabei sind, gibt es wieder Befehle. Eckstadt und Wieblich wurden auseinandergerissen. Werner Eckstadt war nicht traurig darüber. Er hoffte, dem Richtkanonier nie mehr wieder zu begegnen.
Er irrte sich …
Er gehörte nunmehr zu einem sogenannten „Rabbatzhaufen“, wurde erneut versprengt und wiederum mit anderen zusammengezogen, bis die Ardennenoffensive endgültig versickert war.
Dann kam er zu einem Ersatztruppenteil der SS nach Deutschland. Man hatte ihm diese Einheit während der Sonderausbildung in Sennelager ins Soldbuch eingetragen.
Er glaubte, daß jetzt die Gelegenheit gekommen sei, sich endgültig von der SS zu trennen. Er ließ sich beim Kompaniechef melden.
Der Hauptsturmführer hatte eine roten, feisten Nacken. Er trug die üblichen Auszeichnungen, hatte sich wohl aber inzwischen auf den Heimatkriegsschauplatz spezialisiert.
„Na, was ist mit Ihnen los?“ bellte er. „Urlaub gibt’s nicht, Herrschaften, das sage ich euch gleich …“
Werner verzog keine Miene.
„Jawohl, Hauptsturmführer“, antwortete er stur.
Der Kompaniechef hatte wasserblaue Schweinsaugen. Er zwinkerte nervös.
„Was wollen Sie dann?“
„Hauptsturmführer, ich bitte um Versetzung.“
„Was wollen Sie?“
„Ich bitte um Rückversetzung zur Wehrmacht.“
Der Hauptsturmführer legte die Hand an das fleischige Ohr.
„Was haben Sie da gesagt?“
Eckstadt holte tief Luft.
„Ich wurde vor sechs Monaten für einen einzigen Sondereinsatz zur SS versetzt … Mir wurde gesagt, ich käme anschließend wieder zum Heer. Ich bin Gefreiter bei der Panzerwaffe.“
Der Kompaniechef lief gleichzeitig blau und rot an.
„Was sind Sie?“ brüllte er. „Halten Sie ’s Maul! Gefreiter bei der Panzerwaffe? Sie haben wohl ’nen Furz gefrühstückt!“ Er bellte so laut, daß die Fensterscheiben leise klirrten. Dabei ging ihm die Puste aus.
„Hinlegen!“ brüllte er.
Werner zögerte einen winzigen Moment … Ist ja doch alles Scheiße, dachte er und warf sich auf den Fußboden.
„Auf!“ schrie der Hauptsturmführer. Er kam um seinen Schreibtisch herum. „Hinlegen! Auf! Hinlegen! Auf! Hinlegen! Auf!“
Dann ließ der Kompaniechef Werners Zugführer kommen.
Читать дальше