Nachdem man ihn in ein Arbeitslager für Gewaltverbrecher und unzurechnungsfähige Personen überführt hatte, war Pinnaghel bald imstande, sich die Strategie seines Lebens zurechtzulegen. Als Fünfzehnjähriger hatte sein Gesicht die charakteristischen Züge eines verstockten Delinquenten. Er mußte seinen Arsch für ein paar ausgewachsene Kerle hergeben, die ihn brüderlich miteinander teilten und eifersüchtig darüber wachten, daß kein anderer ihm nahe kam. Voller Staunen reiste er nach seiner Entlassung nach Deutschland, wo er als Streuner und Obdachloser verhaftet wurde. In seiner Zelle brütete er eine finstere und bittere Hoffnungslosigkeit aus, in der Nacht aber träumte er von singenden Hunden. Als die Gefängniswärter sein Frühstück brachten, waren sie entsetzt, als sie ihn auf allen vieren auf dem Zellenfußboden herumkriechen sahen. Aufgrund seines jugendlichen Alters wurde er nach Dänemark zurückgeschickt, wo ihn sein Vater, der Richter, in Empfang nahm. Als Pinnaghel die herrschaftliche Villa wiedersah, lächelte er: Beim Anblick ihrer vergitterten Fenster begriff er, daß der Richter dazu verurteilt war, sein ganzes Leben hinter Schloß und Riegel zu verbringen. Bis zu diesem Augenblick hatte Pinnaghel mehr oder weniger blind gehandelt, außerstande, es anders zu machen, doch auch ohne seine eigene Natur, ihre dumpfe und hartnäckige Eigensinnigkeit, oder die mystische Metaphysik der Gesellschaft, der Gefängnisse oder des Richterstandes zu begreifen. Nun aber gingen ihm die Zusammenhänge auf; es war, als würde sein fiebriges Gehirn in eiskaltes Wasser gesenkt, und während er zu überschlagen versuchte, wie viele Jahre ihm zur Durchführung seines Vorhabens bleiben würden, teilte er seinem Vater ruhig mit, daß er sich von jetzt an als für die Gesellschaft endgültig verloren betrachte; er habe nämlich beschlossen, sich der aufrührerischen Sprache der sprechenden Hunde zu widmen.
Der Richter, der sich gerade dazu entschlossen hatte, den Sohn in einem letzten verzweifelten Rettungsversuch zum Leben zu verurteilen, weigerte sich, Pinnaghels Erklärung anzuerkennen. Das nahm Pinnaghel leicht. Kein Urteil des Richters konnte ihn mehr erreichen, geschweige denn anfechten; obwohl es ihm gleichgültig geworden war, versuchte er seinem Vater zu erklären, weshalb es sich so verhielt.
Ich habe den Tod selbst in die Hand genommen, erläuterte er, ich habe ihn mir ganz und gar zu eigen gemacht. Diese Tat erkennt keine gesetzgebende Gewalt der Welt an oder, genauer: Keine gesetzgebende Gewalt kennt sie. Sie stellt eine so schwere Verweigerung dar, daß kein Gesetz sie zu erwähnen wagt, aus Furcht, sie könnte dadurch eine weitere Verbreitung finden. Als mir aufging, daß du der Eingesperrte bist und ich der Freie bin, da habe ich gleichzeitig begriffen, daß es sich auch in allen anderen Fragen so umgekehrt verhält.
In derselben Nacht, nachdem er das Haus seines Vaters verlassen hatte, wurde er – auf Befehl von höchster Stelle, hieß es – verhaftet, als er in Begleitung eines entlaufenen und polizeilich gesuchten Hundes die Frederiksbergallee hinunterspazierte, und verbrachte den Rest der Nacht zusammen mit einem vornehm gekleideten, jedoch betrunkenen Mann, der auf den Fußboden der Zelle kotzte. Pinnaghel litt an Angstanfällen, die Erstickungsgefühle verursachten, denn niemandem wird die Auszeichnung dieser Hellsichtigkeit zuteil, ohne daß sie ihm durch Mark und Bein geht. Am nächsten Morgen starrte er sehnsüchtig auf die Beamten, mit dem Ausdruck eines verlorenen Hundes, und folgte mit den Augen der geringsten Bewegung, während sie Kaffee tranken, ihn verhörten und Berichte schrieben. Später am Tag wurde er mit der Begründung des Landes verwiesen, sein Umgang mit den Hunden belästige die Hundebesitzer; kaum aber hatte er die Grenze nach Deutschland überschritten, so wurde er erneut verhaftet und erhielt diesmal eine strengere Strafe, weil er zurückgekehrt war, nachdem man ihn bereits einmal dieses Landes verwiesen hatte. Damit begann sein Dasein in der Verbannung, das ihm gestattete, nicht allein viele Länder, sondern auch viele Gefängnisse dieser vielen Länder zu sehen und viele der zahlreichen Richter dieser vielen Länder, und alle erinnerten sie ihn – in einem oder mehreren Punkten – an seinen Vater.
Während er sich durch die Unterwelten und Armenviertel der Großstädte gekämpft hatte, durch Schmutz, Niedertracht und Hoffnungslosigkeit; durch das Elend der Prostitution, durch Hunderte von unbeseelten Liebesnächten, die in seiner Erinnerung blieben und ihn immer weiter mit magischem Licht bestrahlten; durch die Verwünschungen der Einzelzellen und die fürchterlichen Hierarchien der Gefangenenlager, hatte er entschlossen und geduldig sein Gehör trainiert, hatte sich nicht eine einzige Gelegenheit entgehen lassen, in den verschiedenen Ländern, durch die er hindurchkam, der Sprache der Hunde zu lauschen, und war unweigerlich ziemlich vielen Gleichgesinnten begegnet, mit denen er seine Erfahrungen austauschte.
Pinnaghel Jochumsen berichtete das alles mit einer gewissen mürrischen Arroganz. Nun war seit seiner Heimkehr nach Dänemark schon eine Reihe von Jahren verstrichen. Er beklagte sich nicht. Einzig eine zunehmende Schlaflosigkeit quälte ihn. Die Angstanfälle waren selten geworden, dafür aber schloß er jede Nacht nur für zwei bis drei Stunden die Augen. Möglicherweise sei er damit ja billig davongekommen, erklärte er.
Was er damit meine? wollte Maria Elisabeth wissen.
Damit meine er, daß man, wenn man erst einmal von dem Gedanken an die sprechenden Afghanen besessen sei, in seiner Seele nie mehr Frieden finde.
Maria Elisabeth war nicht mehr jung und fand, sie habe nichts Nennenswertes zu verlieren. Außerdem sah sie keinen Weg zurück.
Das klingt aber fast, als müßte man sich verschreiben, sagte sie.
Pinnaghel Jochumsen war wütend. Der Gipfel der Wut waren in seinem Fall ein paar unverständliche Grunzer und ein seltsames Verdunkeln seines ganzen Gesichts, dazu ein stierender Blick, so, als habe er soeben ein Heer von giftigen kleinen Ameisen entdeckt, die auf ihn zu und unter seine Kleidung marschierten.
Ein paar Deutsche, stöhnte er, haben ein schlechtes Gewissen bekommen, weil sie aus dem bürgerlichen Zauberkreis ausgetreten sind. Sie bilden sich in vollem Ernst ein, der Teufel wohne in einem sprechenden Hund. Das ist der reinste Blödsinn, eine einzige Mystifikation. Sie spazieren in einer Welt strebsamer Leichen umher und glauben, mit ihnen sei etwas nicht in Ordnung, weil sie nicht tot sind.
Pinnaghels Entrüstung kannte keine Grenzen. Ihm zuzuhören amüsierte Maria Elisabeth.
Verschwenden Sie nie auch nur einen Gedanken an solch dummes Zeug, warnte er, das führt nur ins Verderben.
Nun lenkte Elisabeth das Gespräch auf ein anderes Thema, das sie sehr beschäftigte und von dem sie den Eindruck hatte, es komme ihm große Bedeutung bei, nämlich auf die Frage, weshalb es so wichtig sei, daß zwei Hunde zusammenseien.
Nun ja, antwortete der ehemalige Häftling, zwei Stimmen sagen mehr als das Doppelte von einer Stimme, aber ich kriege Kopfweh und Herzschmerzen, wenn ich es erklären soll. Die eine Stimme muß dasein, um die andere aufzuheben, und umgekehrt, sonst wären ihre Aussagen überhaupt nicht zu ertragen, was ich am besten durch ein Beispiel erklären kann. Stellen Sie sich vor, der eine Hund sagte: Den Abschluß der großartigen Mahlzeit bildete ein wohlschmeckender Knochen. Der Hund wird seine ganze Seele in diesen Satz legen. Ist das so verwunderlich? Ließen sich nicht alle Leiden, Tränen, Begierden und Genüsse eines Hundelebens in diesem Satz vereinen? Er würde ein erdrückendes Gewicht bekommen, allein die Gegenwart des Knochens würde die Vorstellung des lebenden Ochsen, von dem er stammt, beschwören, ein nahezu unerträglicher Gedanke. Deshalb Hund Nummer zwei, der im selben Atemzug sagt: Den Abschluß der großartigen Mahlzeit bildete ein wohlschmeckender Knochen. Wie kann das nun angehen? Der Zuhörer versteht augenblicklich, daß diese Mahlzeit, weit entfernt davon, großartig zu sein, viel eher eine reine Fiktion oder Einbildung ist, daß ihr »Abschluß« nicht in der wirklichen Dimension der Zeit vor sich geht, sondern in ihrer lächelnden Spiegelung, und daß es sich bei dem »wohlschmeckenden Knochen« um die Fata Morgana der Stofflichkeit in der Landschaft der Sprache handelt. Mit anderen Worten: Der eine Hund ergreift das Phänomen, nimmt es an sein Herz, verzehrt es – gut mit Speichel und anderen Sekreten vermischt – und löst es in sich auf; wogegen der zweite es ermordet oder hinwegschleudert, außer Reichweite. Der eine Hund ruft uns, der zweite hält uns auf Abstand. Aber – Pinnaghel Jochumsens Gesicht wurde wiederum dunkel, er sah aus, als beherrsche ihn ein heftiger Zorn – das haben die Canologen auf den Tausenden von Seiten und in den Millionen von Fußnoten ihrer Beschreibungen, Analysen, Theorien und Einführungen in der Regel auf die bestialischste und verbrecherischste Weise verpfuscht.
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