Danach lungern sein Bruder und er am Bühneneingang herum, der dem Publikumseingang gegenüberliegt. Don Giovanni ist ins Totenreich gestürzt, gleich unter der Bühne der norwegischen Oper. Von dem vielen Rauch, der dabei aufstieg, musste die Mutter niesen. Aber in der Regel kann sie sich zusammenreißen. Jetzt ist die Vorstellung vorüber. Er kann sehen, dass Kim Borg, der den Kommandanten gespielt hat, in einem dicken Wintermantel herauskommt. Seltsam, einen Mörder aus nächster Nähe zu sehen, denkt er. Und wie konnte Borg wie eine Statue dastehen, am Anfang und dann später in der Handlung?
»Bravo! Bravo!« Fast ruft er. Auch sein Bruder ruft.
»Man dankt«, sagt Kim Borg auf Schwedisch und lächelt die beiden Jungen an, die dort auf ihre Mutter warten. Da kommen sie alle. Donna Elvira, Zerlina, Don Ottavio und endlich Donna Anna, Aase Nordmo Løvberg persönlich. Sie scherzt mit Don Giovanni, auf den sie erst vor einer Stunde so wütend war.
»Bravo!«, ruft er wieder und hält ihr sein Autogrammheft hin. Alle unterschreiben. Eines Tages werden diese Autogramme ihn zum Millionär machen. Und endlich kommt seine Mutter, auch sie lacht, während der Dirigent Arvid Fladmoe die Arme schwenkt und eine Geschichte aus Trondheim erzählt. Er steht da mit seinem Bruder und kann nicht glauben, dass das möglich ist, dass alle diese Menschen, die so um ihr Leben gekämpft und gespielt und gesungen haben, dass das Glas fast zersprungen ist, jetzt aus dem Allerheiligsten hervorkommen und scherzen und lachen. Er selbst hat noch immer eine Gänsehaut.
Die Welt der Mutter. Die Welt des Vaters. Im Melumvei treffen sich beide. Er weiß, dass die Eltern einander lieben. Er kann es daran sehen, wie sie sich berühren. Ein plötzlicher Kuss. Eine freundliche Bemerkung. Aber die Zeit ist kurz. Und wenn er oben in seinem Zimmer im Bett liegt, hört er die Stimmen, die auf und ab wogen und stärker werden, ehe alles still wird.
Zu still.
36
Kundgebung mitten in Oslo. Ulf ist zur Stelle. Tormod und ich ebenfalls. Seit drei Tagen wird im Parlament über § 93 diskutiert. Der neue Paragraph, der die Regierungsgewalt an internationale Organe übertragen kann, wenn drei Viertel der Abgeordneten das beschließen.
Die erste große Debatte über die EU. Die aber einstweilen Gemeinsamer Markt heißt. Und EWG.
Wir sehen die großen Transparente: »Für die UNO, gegen Blockbildung!«, »Ein unabhängiges Norwegen ist ein starkes Norwegen!«, »Kein Gemeinsamer Markt!«, »Fragt das Volk!«
Aber weder Vater noch Ulf stehen diesmal in der ersten Reihe. Sie stehen am Rand, während sie sich die vielen Reden anhören, die nacheinander gehalten werden. Dort steht Bürgermeister Lars Sulheim, der von den Bauern in Gudbrandsdalen grüßt. Dort steht Oskar Lindberget, der in so wichtigen Fragen eine Volksabstimmung fordert. Der Zimmermann Ragnar Kalheim, ein Gewerkschaftsmann, warnt vor der unwürdigen Blockbildung, die von Moskau, dem Gemeinsamen Markt und Washington angestrebt wird. »Sozialismus auf Norwegisch!«, wird zu seinem wichtigsten Schlagwort. Dann tritt Karl Evang auf. Der Gesundheitsminister. Ich habe heimlich über ihn gelesen. Er hat ein Buch geschrieben, von dem mehr als 120 000 Exemplare im Umlauf sind. Dort sagt er angeblich, Onanie sei gesund. Aber ich weiß nicht, was Onanie ist, und ich will es auch nicht wissen. Ich weiß nur, dass weder Mutter noch Tante Svanhild dieses Wort in den Mund nehmen würden. Evang ist ein Mann, den Vater bewundert, auch wenn er seltsam unsicher wirkt, als er ihm zuhört. Evang lobt die Demonstranten und sagt, sie hätten eine Volksbewegung ins Leben gerufen, die quer zu den alten Trennlinien agiert. Er dankt auch dem Lohn- und Preisminister Gunnar Bøe, dem grundsoliden Politiker aus Bergen, der viele Jahre später als Sowjetspion mit dem Decknamen Mono entlarvt werden wird. Aber noch weiß niemand, dass er zwei Jahre zuvor angeworben worden ist. Seine Hauptaufgabe ist es, über die Entwicklung der NATO-Verteidigungspläne im Westen zu berichten. Als Bezahlung für diese Informationen wird er zwischen Februar 1961 und Februar 1963 mehr als 110 000 norwegische Kronen erhalten. Er wird sich von diesem Geld ein Haus und ein Grundstück kaufen. Er wird in der Debatte über die EWG eine abweichende Meinung vertreten und die Regierung verlassen. Aber das weiß noch niemand an diesem Tag im März, als Vater und Ulf, vertieft in ein leises Gespräch, die Demonstration verlassen. Vater ist ausnahmsweise einmal nicht sicher, ob er auf der Seite der Demonstranten steht. Mehrmals hat er in letzter Zeit darüber gesprochen, dass der Gemeinsame Markt dazu beitragen kann, den Frieden in Europa zu sichern. Ich selbst habe keine Meinung. Das Wichtigste für mich ist im Moment, dass Ende des Monats die Waldorfschule in den neuen Palast in Hovseter ziehen wird.
Es schneit, wie immer Ende März, wenn die Krokusse glauben, der Frühling sei da. »Reingefallen«, sagt Gott und bläst seinen eiskalten Stahlatem über Ostnorwegen. Da stehen wir, die 23 handverlesenen Musikanten, Vertreter eines fernen, aussterbenden Volkes, mit Baskenmützen und roten Schärpen, aber dennoch stolz, als wir von der Straßenbahnhaltestelle in Hovseter losmarschieren zu rhythmischen Schlägen des Trommel-und-Becken-Battaillons. Anton ist bei uns. Seine leise Autorität wird tiefe Spuren hinterlassen. Man muss nicht immer schreien. Aber da steht ja auch noch Bürgermeister Rolf Stranger zusammen mit Angehörigen der Schulleitung. Der Geschäftsführer von Hanssen & Bergh AS, Spezialisten für Arbeitskleidung, Hemden und Sportkleidung. Er ist ein gebildeter Mann mit Hut und Zigarre. Groß und elegant. Ein bisschen wie Onkel Sigurd. Vielleicht wusste er, dass der eigentliche Gründer dieser Schule die Zigarettenfabrik Waldorf Astoria in Stuttgart betrieben und, als Handreichung für die Arbeiter, die Waldorfschule Uhlandshöhe gestiftet hatte. So gesehen, war es die Weiterführung einer soliden Proletarier- und Arbeiterschule, die er jetzt zusammen mit den anderen am Waldrand in Hovseter eröffnete. Die Gegend gefiel mir. Die Flieger, die in den weißen Blocks wohnten. Flyvei. Landingsvei. Luftfartsvei. »Warum nicht Absturzweg und Bombenweg?«, fragte Mads. »Natoweg? Atomversuchsweg? General von Schweinehund-Weg?« Wir machten Witze über die großen Dinge, wir beide. Mads spielte nicht mit in der Kapelle. Er stand da und sah zu, während wir vorübermarschierten und spielten, dass es nur so widerhallte. Vor der Blindenschule standen die Blinden und winkten uns zu. Die Frau des Theaterdirektors, Karin, die die Uniformen entworfen hatte, lief zwischen uns hin und her und passte auf, dass Mützen und Schärpen nicht verrutschten.
Neue Schule. Neue Fenster. Neue Böden. Ein riesiger Eurythmiesaal mit einem alten Bechstein-Flügel, den Klavier-Smith mit seinem sanften Anschlag in Betrieb nahm. Ist man das Beschwerliche jetzt wohl los, überlege ich. Oder wird auf dem Schulhof weiterhin »Uääääh!« gebrüllt? Aber sicher doch. Da sind sie alle. Die mit den seltsamen Gesichtern. Die mit kurzen starren Haaren. Die, über die wir uns lustig machen, ohne dass sie das merken. Die, die uns in Verlegenheit stürzen, wenn sie die Arme um uns schlingen und uns reizende Dinge sagen. Aber das Haus im Wald ist nicht mehr da. Fräulein Ätschbätsch ist nicht mehr da.
Alles hier ist feierlicher. Als wäre die Schule von Helge Sivertsen und dem Kirchen- und Unterrichtsministerium entworfen. Ja, als wäre Einar Gerhardsen persönlich hier gewesen und hätte das Resultat für gut befunden. Der Ministerpräsident mag keine Privatschulen. Er findet sie zutiefst suspekt. Dennoch durften Ledsaak, Lindholm, Borgen & Co bauen. Ich gehe in das neue Klassenzimmer. An der Wand hängen keine Bilder. Nur Ledsaak steht da mit vielsagendem Lächeln und wartet auf uns.
»Ist das nicht schön, Leute? Sollen wir dann mal loslegen?«
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