Warum sind diese unternehmerischen Ungetüme so schnell so groß geworden? Weil sie zu jeder Zeit sicherstellen, dass du sie brauchst. Permanent. Wenn dein Smartphone das Erste ist, was du morgens in die Hand nimmst, und das Letzte, was du am Abend berührst, ist das kein Zufall. Genau hierfür wurde es entwickelt.
Wenn du dich also süchtig nach deinem Telefon fühlst, dann, weil du es bist. Du wirst systematisch zum App-Junkie gemacht, denn das garantiert den Profit. Es ist keine Verschwörung, und es ist kein teuflischer Plan eines größenwahnsinnigen Drahtziehers, es ist der reine kommerzielle Imperativ: Je mehr Zeit du an deinem Handy verbringst, desto mehr bist du Werbung ausgesetzt; je mehr du mit Apps interagierst, desto mehr Informationen übermittelst du; je mehr du teilst, desto genauer kann und wird dein Profil kalibriert. Und mittlerweile sorgt sich sogar GAFATA um dich – wie jeder gute Drogendealer – und unterstützt dich dabei, eine verwaltete, stabile und somit nachhaltige Sucht zu entwickeln. Mit Screentime-Analysen, Achtsamkeitsapps und der gelegentlichen Erinnerung, tief durchzuatmen. Irgendwie ist es liebevoll. Und irgendwie auch heimtückisch.
Und wenn wir sagen, dass du süchtig bist, ist das nicht metaphorisch gemeint. Du wirst im wahrsten Sinne mit deinem eigenen Dopamin narkotisiert. Jedes Mal wenn du eine Nachrichtenmeldung erhältst, ein Update, einen neuen Videoclip oder ein Bild, werden deine Glückssensoren aktiviert, und ein kleines bisschen Rauschmittel wird in deinen Kreislauf ausgeschüttet. Der Grund, warum du nachts dein Handy nicht weglegen kannst, liegt darin, dass es dir körperlich Freude bereitet. Nicht wegen seiner haptischen Qualitäten, sondern weil die Apps dein Gehirn zur Produktion von Hormonen anregen, die sich gut anfühlen. Richtig, wir vereinfachen die ganze Sache ein wenig. Die neurochemischen Prozesse sind natürlich deutlich komplexer als hier dargestellt. Das Prinzip jedoch stimmt: Unsere Smartphones machen körperlich, physiologisch süchtig, weil sie genau mit dieser Absicht entworfen wurden.
Bisweilen heißt es, das Internet habe seine Unschuld verloren. Man kann sich darüber streiten, ob und wie »unschuldig« es jemals gewesen ist. Sein unmittelbarer Vorgänger und die Technologie, aus der es entsprungen ist, war das ARPANET. In diesem Akronym steht NET auch für Netz und ARPA für Advanced Research Projects Agency. Diese war Teil des US-amerikanischen Verteidigungsministeriums und wurde von dort finanziert. Als Forschungsprojekt erhielt »das Netz« 1966 Förderung durch ARPA und ging 1969 zum ersten Mal live. Bis es 1990 abgeschaltet wurde, waren seine grundlegenden Strukturen und sein Modell für Kommunikationsprotokolle in das Netzwerk der Netzwerke übernommen worden, aus denen das Interconnected Network besteht, was wir Internet nennen.
Von seiner militärischen Entstehung abgesehen, kann man sagen, das Internet sei mit guten Absichten und als weitgehend kommerzfreie Zone ins Leben gerufen worden. Noch 1990 betrachtete der Microsoft-Gründer Bill Gates das Internet als reines Interessenthema für Geeks. Von den späten 1980er- bis Mitte der 1990er-Jahre hatte das Internet den Charakter jungfräulicher Jugendlichkeit, eine Zeit, in der es fast vollkommen frei war. Es gab nur wenige Bilder, folglich gab es auch keine Pornos, und es gab keine Handelswerkzeuge, folglich keinen Verkauf. Es bestand vorwiegend aus Leuten, die mittels Hyperlinks textbasierte Artikel teilten, und Nachrichtengruppen, die die neuesten Nachrichten des Tages diskutierten. Dann wurde das Internet von Unternehmen »entdeckt« und brutal kommerzialisiert.
Aber selbst diese finstere Zeit wirkt im Vergleich zum heutigen Stand bieder. Denn was wir heute erleben, ist eine monströse Manipulation unseres »freiwilligen Verhaltens«, durch Unternehmen und politische Agitatoren gleichermaßen. Wie gesagt: Auf Facebook bist du das Produkt. Auf Facebook wie auf Weibo, Instagram, QQ. Dass alle diese Plattformen »kostenlos« sind, liegt schlicht daran, dass sie ihre Nutzer monetarisieren. Mit jedem Bild, das du hochlädst, jedem Kommentar, den du postest, jedem Like, jedem Emoji, jeder Interaktion wirst du überwacht. Das Internet und vieles von dem, was du darin findest, ist also kostenlos, aber du bezahlst trotzdem dafür. Du wirst beobachtet. Genauer, intimer und durchdringender, als es je zuvor in der Geschichte möglich war.
[WIR ERLEBEN ORWELL IN EINER GANZ ANDEREN GRÖSSENORDNUNG.]
Du hast bestimmt schon Geschichten von der Überwachung in drakonischen Systemen gehört oder gelesen. Sie existieren bis heute, und viele Menschen haben unter schwerwiegenden Umständen Not, Verlust und Elend in unvorstellbarem Maß zu erleiden. Das wollen wir nicht schmälern, schon gar nicht trivialisieren. Aber keines dieser Überwachungssysteme hat auch nur annähernd so viele persönliche Informationen sammeln können, wie wir ständig freiwillig verschenken. Wir haben innerhalb von zwei Jahrzehnten als Normalität akzeptiert, was kurz zuvor Menschen zutiefst entsetzt hätte. Und nun stell dir vor, was passiert, wenn unser freiwilliges Verhalten und unsere Sucht auf ein Sozialkreditsystem und ein Politikmodell wie das in China treffen – da erleben wir Orwell in einer ganz neuen Größenordnung.
Folglich ist dies die erste entscheidende Frage, die wir an dich und an uns selbst stellen wollen. Es gibt keine simple Antwort auf sie, und jeder, der so tut, als gäbe es sie, lügt dich an oder versteht das Problem nicht: Was passiert hier eigentlich?
Diese so unglaubliche wie erstaunliche Bequemlichkeit, die die Apps und Netzwerke, die Smartphones und Laptops mit sich bringen: Was verlangen sie im Gegenzug? Was muss man für sie aufgeben? Und was macht das mit uns? Ist es gezwungenermaßen von Übel, keine nennenswerte Privatsphäre mehr zu haben? Vielleicht nicht. Vielleicht sind soziale Kohärenz und ein ethischer Kodex tatsächlich vereinbar, selbst in dieser Welt freiwilliger und unfreiwilliger Totalüberwachung. Vielleicht eröffnet sich ein neuer Raum für Individualität und Freiheit, den wir noch nicht erkundet haben, wenn alle alles übereinander wissen?
Und was ist mit der ständigen Bombardierung mit Werbung – aufdringlich, systematisch, zum Kotzen? Ist das ein Problem? Oder lediglich ein geringer Preis, den man für kostenlose unbegrenzte Kommunikation über den gesamten Globus mit Chats, Bildern und Videos eben bezahlen muss? Ist es für mich in Ordnung, wenn jemand über alles, was ich tue, Bescheid weiß, es aufzeichnet und analysiert und dann noch jeden eingetippten Suchbegriff bis hin zum Vokabular meiner streng vertraulichen Nachrichten nutzt? Wo ziehe ich die Grenze? Muss ich eine Grenze ziehen?
Wenn 90 Prozent des Internetverkehrs durch 0,1 Prozent aller Webseiten fließen, ist das ein Problem? Wenn alles so gut funktioniert? Denn das ist Teil dieser Realität: Die Dinge funktionieren erstaunlich gut. Der Toaster, den du gestern bestellt hast, kommt tatsächlich heute an. Das Auto, das du auf deinem Handy in Schanghai buchst, steht tatsächlich bereit, genau an dem Ort und zu dem Zeitpunkt, den du erwartest. Die Wohnung, in der du in New York übernachtest, ist echt und für dich bereit, und sie ist bezaubernd. Die Mahlzeit, die du in London bei einem indischen Restaurant bestellst, kommt an und ist köstlich. Immer durch die Nutzung der gleichen drei Apps. Überall auf der Welt. Gibt es also ein Problem? Und ist es mein Problem? Stört mich die Vorherrschaft durch einige wenige sehr gut organisierte, professionell betriebene Organisationen, oder ist es mir eigentlich doch egal? Warum sollte es? Warum sollte es nicht?
Kann es ein freies, vielfältiges, facettenreiches und demokratisches Internet geben? Und wenn das Internet der Ort ist, an dem wir gewohnheitsmäßig unser Leben verbringen, kann es dann immer noch so etwas wie eine demokratische Gesellschaft geben?
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