Heurtin begann zu weinen. Die Augen in seinem bleichen Gesicht waren gerötet.
»Wie heißt dein Komplize?«
»Hab keinen.«
Obwohl der Fall offiziell abgeschlossen war, besuchte Maigret ihn täglich.
Und jedes Mal wirkte Heurtin noch ein wenig schwächer, aber gefasst, er zitterte nicht, manchmal blitzte sogar Spott in seinen Augen auf.
Bis zu dem Morgen, an dem er in der Nebenzelle erst Schritte, dann gellende Schreie hörte.
Da wurde Nummer 9, ein Vatermörder, abgeholt und zum Schafott geführt.
Am nächsten Tag weinte Heurtin, der zur Nummer 11 geworden war. Aber er redete nicht. Er lag mit dem Gesicht zur Wand auf seiner Pritsche und klapperte mit den Zähnen.
Wenn Maigret sich etwas in den Kopf setzte, war es dort längere Zeit fest verankert.
»Der ist entweder verrückt oder unschuldig!«, sagte er zum Untersuchungsrichter.
»Das kann nicht sein!«, widersprach Coméliau. »Außerdem ist er rechtskräftig verurteilt.«
Doch Maigret, eins achtzig groß, breit und schwer wie ein Lastenträger in den Pariser Markthallen, ließ sich nicht beirren.
»Erinnern Sie sich daran, dass wir nicht herausfinden konnten, wie er von Saint-Cloud wieder nach Paris gekommen ist! Er hat nicht den Zug genommen, das ist erwiesen. Er ist nicht Straßenbahn gefahren. Und zu Fuß war er auch nicht unterwegs!«
Den Spott, den er kassierte, nahm er hin.
»Wollen wir ein Experiment wagen?«
»Das kann nur der Minister entscheiden.«
Gewichtig und beharrlich sprach Maigret auch im Justizministerium vor. Und entwarf eigenhändig den Brief mit dem Fluchtplan.
»Hören Sie! Entweder hat Heurtin Komplizen und glaubt, dass die Nachricht von ihnen stammt, oder er hat keine und wird misstrauisch, weil er eine Falle wittert. Ich bürge für ihn. Und ich gebe Ihnen mein Ehrenwort, dass er uns auf keinen Fall entkommt.«
Man hätte das undurchdringliche, ruhige und dennoch harte Gesicht des Kommissars dabei sehen müssen!
Es dauerte drei Tage. Maigret beschwor das Schreckgespenst eines Justizirrtums herauf und den Skandal, den dieser früher oder später nach sich ziehen würde.
»Aber Sie haben ihn doch selbst verhaftet!«
»Weil ich als Polizeibeamter verpflichtet bin, aus handfesten Beweisen logische Schlüsse zu ziehen.«
»Und als Mensch?«
»Warte ich auf psychologische Beweise.«
»Das heißt?«
»Dass er verrückt oder unschuldig ist.«
»Und warum redet er nicht?«
»Das Experiment, das ich vorschlage, wird es uns verraten.«
Es folgten zahllose Telefonate und Konferenzen.
»Sie setzen Ihre Karriere aufs Spiel, Kommissar! Überlegen Sie es sich!«
»Hab ich schon.«
Als der Häftling den Brief erhielt, zeigte er ihn niemandem, aß aber mit größerem Appetit.
»Es überrascht ihn also nicht!«, stellte Maigret fest. »Also hat er auf so etwas gewartet. Also hat er wahrscheinlich Komplizen, die ihm die Freiheit versprochen haben.«
»Oder er stellt sich nur dumm! Und kaum ist er draußen, entwischt er Ihnen … Es geht um Ihre Stellung, Kommissar …«
»Und um seinen Kopf …«
Maigret lümmelte im Ledersessel vor dem Fenster seines Hotelzimmers. Ab und zu beobachtete er durch das Fernglas das Citanguette, wo die Schauerleute und Flussschiffer auf ein Glas vorbeischauten.
Inspektor Janvier stand gelangweilt am Ufer und bemühte sich, unbeteiligt zu wirken.
Dufour hatte – so genau konnte Maigret alles sehen – Andouillette mit Kartoffelpüree gegessen und einen Calvados bestellt.
Das Fenster gegenüber war noch immer geschlossen.
»Geben Sie mir das Citanguette, Mademoiselle!«
»Die Leitung ist besetzt.«
»Ist mir egal! Unterbrechen Sie die Verbindung!«
Dann:
»Bist du das, Dufour?«
»Schläft noch«, war die lakonische Antwort.
Es klopfte. Gleich darauf bekam Wachtmeister Lucas in dem verrauchten Zimmer einen Hustenanfall.
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