Ich möchte mit Hilfe des vorliegenden Buches zur Auseinandersetzung mit all den Problemen männlicher Sozialisation ermutigen. Durch Reflexionsprozesse können sehr viele der problematischen Verhaltens- und Denkmuster durchbrochen und verändert werden. Ausschlaggebend dafür ist die Einsicht, dass das eigene Männlich-geworden-Sein problematische Anteile besitzt und es sich lohnt, diese näher zu betrachten und an ihnen zu arbeiten, um sie mit neuen Handlungs- und Denkoptionen zu überschreiben. Dies ist anstrengend und erfordert sehr viel Reflexion und Durchhaltevermögen. Eine Gesellschaft auf Augenhöhe ohne patriarchale Strukturen und ohne Gewalt durch Männer ist aber nur erreichbar, wenn männliche Geschlechterstereotype aufgebrochen und dekonstruiert werden. Dies führt nicht nur zu einer gleichberechtigteren und gewaltfreieren Gesellschaft, sondern auch dazu, dass die Lebenserwartung von Männern steigt. Es muss dabei jedoch nicht erst bei erwachsenen Männern, sondern bereits im Erziehungs- und Bildungssystem angesetzt werden.
Ich möchte alle Männer und Jungen, pädagogischen Fachkräfte, Erziehende, Feministinnen und Feministen, Politikerinnen und Politiker sowie Interessierte dazu einladen, sich mit Hilfe des vorliegenden Buches der eigenen toxischen Anteile (und denen der anderen) bewusst zu werden, um daran zu arbeiten, diese zu verändern, Privilegien soweit wie möglich abzulegen, das patriarchal geprägte gesellschaftliche System zu hinterfragen, andere Männer zu sensibilisieren und Frauen im Kampf um Gleichberechtigung zu unterstützen.
Wir (Männer) werden niemals nachfühlen können, was es bedeutet, auf allen Ebenen strukturell benachteiligt und permanent sexualisiert und objektiviert zu werden. Der erste Schritt für uns ist daher die Anerkennung von toxischer, mit Privilegien einhergehender Männlichkeit im patriarchalen und kapitalistischen System. Es ist ein Anfang, wenn wir beginnen, Frauen zuzuhören, ohne uns angegriffen zu fühlen, ihre Realität nicht infrage stellen und sie auf dem Weg zu einer gleichberechtigen Gesellschaft begleiten.
Es wird sicherlich frustrierende Momente geben, Momente, bei denen sich Lesende angegriffen fühlen, bei denen beschriebene Zustände abgestritten werden und gesagt wird, dass dies so nicht zutreffen würde. Es ist wichtig, sich für die Veränderungsprozesse Zeit zu nehmen. Die Erfahrungsberichte von Männern und Frauen sowie von Expertinnen und Experten sollen auf diesem Weg unterstützen.
Anmerkung: Ich verwende im vorliegenden Buch zum einen geschlechtsneutrale Bezeichnungen, zum anderen spreche ich aber ebenso explizit von Männern und Frauen. Dies ist wichtig, um die gesellschaftliche patriarchale Schieflage, die an Geschlechterzuschreibungen geknüpft ist, benennen zu können. Zudem werden jegliche Statistiken (Gehalt, Gewalt usw.) nach der gesellschaftlichen Dichotomie erhoben.
Auch, wenn das Ziel ist, die Verknüpfung von biologischen Aspekten (die nicht immer eindeutig sind, jedoch existiert eine bimodale Verteilung von Clustering-Eigenschaften) und der Annahme, wie sich Menschen verhalten sollen, was sie leisten können, wen sie lieben dürfen etc., aufzulösen, so leben wir aktuell in einer binär-eingeteilten Gesellschaft, deren Machtmechanismen eben durch die Aufteilung Mann – Frau funktionieren. Diese müssen klar benannt werden, um sie dekonstruieren zu können.
Ein in der Zukunft liegendes Ziel ist es, Zuschreibungen an Geschlechter abzubauen, wohlwissend, dass es Menschen gibt, die Kinder gebären können und andere mit Penis, die einen Beitrag zur Zeugung leisten. Das Problem ist nicht, dass wir sie Mann und Frau nennen, sondern dass wir ihnen bestimmte Fähigkeiten zuschreiben und eine ganz spezielle Performance von ihnen erwarten.
All diese Vorstellungen von Geschlechtern führen nur zu eingeschränkten Handlungsmöglichkeiten und Diskriminierung, Benachteiligung und Gewalt, jedoch nicht zu einer individuellen friedfertigen Entfaltung.
Ich wünsche auf dieser nicht einfachen Reise alles Gute.
Sebastian Tippe,
Hannover 2021
1.2 DIE SOZIALE KONSTRUKTION VON GESCHLECHT
Es gibt klare gesellschaftliche Erwartungen daran, wie „typische“ Männer und Frauen auszusehen haben, wie sie sich zu verhalten haben, was sie dürfen oder eben nicht dürfen und wozu sie fähig oder nicht fähig sind. Dieser Annahme liegt zu Grunde, dass bestimmte Attribute und Fähigkeiten naturgegeben an ein bestimmtes Geschlecht – entweder Mann oder Frau – gekoppelt und damit unveränderlich seien. Diese biologistische Argumentation ist mittlerweile wissenschaftlich hinreichend widerlegt. Aus der Soziologie und Geschlechterforschung ist bekannt, dass alle Menschen prinzipiell die gleichen Fähigkeiten besitzen oder erlernen können und vermeintliche biologische Unterschiede – von der Fortpflanzung abgesehen – kaum eine Rolle spielen. Carol Hagemann-White (1988, S. 224) verweist auf den „[…] erfolgreichen Nachweis, in der empirischen Forschung wie in der beruflichen und politischen Praxis, dass Mädchen und Frauen in der Tat über alle Fähigkeiten und Verhaltensweisen verfügen, die es bei Männern gibt“.
Geschlecht ist eine soziale Kategorie
Geschlecht wird daher im Folgenden nach Helga Bilden (vgl. 1991, S. 279 – 301) oder Raewyn W. Connell (vgl. 2000, S. 54 ff.) als soziale Konstruktion verstanden. Hagemann-White (1988, S. 229) konstatiert zudem: „Die Zweigeschlechtlichkeit ist zuallererst eine soziale Realität.“ Das bedeutet, dass alle Fähigkeiten, Kompetenzen, Denkmuster und Verhaltensweisen ausschließlich sozialisationsbedingt sind. Nicht die Biologie erschafft Männer und Frauen, sondern unsere Vorstellung davon erschafft sie. Das bedeutet aber auch, dass diese sozialen Kategorien veränderbar sind. Daraus folgt, dass auch toxische Männlichkeit sozial konstruiert und dementsprechend verändert werden kann und ablegbar ist. Bereits 1949 konstatierte Simone de Beauvoir (vgl. 2000 [1949]), dass Frauen nicht als Frauen geboren, sondern zu ihnen gemacht werden. Durch die Erkenntnis, dass nicht der menschliche Körper, also biologische Aspekte, sondern das soziale Miteinander unsere Geschlechteridentität produziert und reproduziert, entwickelten Candace West und Don H. Zimmermann 1987 das Konzept des Doing Gender (vgl. 1987, S. 125 – 151). Auch die Autorin Verena Brunschweiger (2013, S. 28 f.) schreibt dazu: „[…] hier ist alles fragil, veränderbar, man spricht auch vom „Doing Gender“, was den Konstruktionscharakter der Geschlechteridentität herausstellt: jede Handlung hat Einfluss darauf, nichts ist starr und unveränderlich, Männer und Frauen machen sich beständig durch ihre Alltagspraktiken zu als männlich oder weiblich erkennbaren Personen (oder werden dazu gemacht).“ Es wird dabei auch von Geschlechterrollen gesprochen. Der Berliner Autor Jochen König (2015, S. 41) führt dies wie folgt aus: „Dabei besagt der Begriff zunächst einmal nur, dass das, was eine Person in ihrer Unterhose mitbringt, noch nicht abschließend festlegt, wofür sich diese Person interessiert, was sie gut oder weniger gut kann und welche Rolle sie innerhalb einer Partnerschaft, innerhalb einer Familie und innerhalb der Gesellschaft zu erfüllen hat. […] Vieles ist ausgehandelt und wird tagtäglich neu verhandelt. Es lohnt sich also allemal, von Gender zu sprechen, von sozialen und nicht biologischen, eindeutig determinierten Geschlechterrollen.“
Die Vorstellung des Rollenspielens hilft dabei, die Konstruktion von Geschlechterstereotypen zu verstehen, wobei diese viel weitreichender ist: Rollen können leicht wieder abgelegt werden, doch Sozialisation ist in unsere Persönlichkeit, in unser Denken und Handeln eingeschrieben, und es bedarf weitaus umfassender Veränderungsprozesse, um sich davon zu lösen.
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