»Aber warum hat sie denn geweint?« wollte Brenda von Bobbo wissen, als Ruth die Treppe hochpolterte und das Haus erbebte. »Hat sie ihre kritischen Tage?«
»Ich denke schon«, sagte Bobbo.
»Welch eine Plage für eine Frau«, sagte Brenda, und Angus hüstelte bei dieser Wendung des Gesprächs leicht verlegen.
Kurz darauf kam Ruth lächelnd herunter und servierte die Suppe.
Bobbo hatte Ruth vor nun mehr als zwölf Jahren kennengelernt. Sie war eine von Angus’ Schreibkräften. Angus war in der Papierbranche tätig und arbeitete gerade auf seine zweite Million hin, die später durch die Einführung der Vermögenssteuer wie Schnee in der Sonne dahinschmolz. Angus und Brenda lebten ausnahmsweise mal in einem Haus und nicht in einem Hotel, was Bobbo zu schätzen wußte, obwohl er auswärts studierte. Die Examen für Buchprüfer ziehen sich über viele Jahre hin, was den Sohn (üblicherweise ist es ein Sohn) ungewöhnlich lange vom Vater abhängig macht.
Ruth war ein hilfsbereites, anstelliges Mädchen, das sich konzentrieren konnte und nicht ständig in den Spiegel schaute. Wenn möglich, vermied sie sogar den Blick in den Spiegel. Sie war noch keine zwanzig, wohnte aber nicht mehr zu Hause. Ihr Schlafzimmer war für die Modelleisenbahn ihres Stiefvaters benötigt worden. Aufgrund ihrer Ungeschicklichkeit und der Empfindlichkeit der Ausrüstung konnten sie und die Eisenbahn nicht gefahrlos ein Zimmer teilen. Einer von ihnen mußte gehen, und Ruth ließ sich leichter abschieben. Es kann Monate dauern, eine Gleisanlage richtig und auf Dauer aufzubauen und einzurichten; eine junge Frau kann sich überall niederlassen.
So war Ruth schließlich in einer Art Studentenheim untergekommen, das hauptsächlich von Verkäuferinnen bewohnt wurde; einer besonders schmalen, eleganten Sorte junger Frauen. Die Gürtel, die ihre Wespentaillen einschnürten, hätten nicht einmal Ruths Oberschenkel umspannt.
Der Auszug aus dem Heim ihrer Kindheit war ohne große Emotionen verlaufen; allen Beteiligten, Ruth eingeschlossen, war klar, daß sie diesem Ort entwachsen war. Sie mochte kein großes Theater. Sie hatte eine Klosterschule besucht, die von Nonnen der abergläubischen und nicht der intellektuellen Art geleitet wurde. Hier konzentrierte man sich darauf, die Mädchen auf ihre künftige Rolle als Frau und Hausmütterchen vorzubereiten; abgesehen von Schreibmaschine und Kurzschrift mußten keine Prüfungen abgelegt werden. Diese Ausbildung förderte Stoizismus und unterdrückte selbstsüchtige Regungen und aufmerksamkeitsheischende Tränen.
Ruths Halbschwestern zeichneten sich in St. Martha besonders im griechischen Tanz aus, was sie dann auch am Ende eines jeden Schuljahrs ganz liebreizend zur Schau stellten. Auch Ruth machte sich bei derartigen Anlässen nützlich – als Kulissenschieberin. »Seht ihr«, sagten die Nonnen, »jeder Mensch hat seinen Wert. In Gottes wunderbarer Schöpfung ist Platz für alle.«
Kurz nachdem Ruth in das Heim umgezogen war, verließ auch ihre Mutter das Zuhause. Vielleicht fühlte auch sie sich von der stetig wachsenden Eisenbahnanlage in die Ecke gedrängt oder war von dem Mangel an sexueller Begeisterung enttäuscht, der oft von Männern gezeigt wird, die diesem lohnenden Hobby verfallen; vielleicht aber war es auch bloß – wie Ruth sich einbildete – die plötzliche Abwesenheit ihrer Tochter, die der Mutter die Freiheit bescherte. Jedenfalls brannte Ruths Mutter mit einem Bergwerksingenieur nach Westaustralien durch, zusammen mit Miranda und Jocelyn, und Ruths Stiefvater tröstete sich kurz darauf mit einer weniger anspruchsvollen Frau, die keinen Anlaß sah, daß Ruth sie besuchen sollte. Schließlich war Ruth keine Blutsverwandte, ja es bestand nicht einmal eine entfernte Verwandtschaft.
Brenda, die durch Angus von diesen Umständen erfuhr, bemitleidete das Mädchen.
»Sie braucht jemand, der ihr ein bißchen unter die Arme greift!« sagte Brenda.
Ruth saß stets in der Telefonvermittlung, wenn Brenda früh, spät oder in der Mittagszeit anrief, immer höflich, ruhig und ungemein tüchtig. Die andern Mädchen machten immer gerade irgendwelche Einkäufe, kleine Halstücher, Ohrringe, Lidschatten und ähnliches, und all das während der von Angus bezahlten Bürozeit (kein Wunder, daß er so oft bankrott war); Ruth tat so etwas nie.
»Ich war auch mal ein häßliches Entlein«, sagte Brenda zu Angus. »Ich weiß, wie das ist.«
»Sie ist kein häßliches Entlein«, sagte Angus. »Häßliche Entlein verwandeln sich in Schwäne.«
»Ich glaube«, sagte Brenda, »das Mädchen braucht jetzt, an diesem entscheidenden Punkt in ihrem Leben, ein richtiges Zuhause. Sie könnte bei uns wohnen. Ich könnte ihr helfen, daß sie was aus sich macht, und sie könnte dafür als Gegenleistung abends nach der Arbeit ein bißchen kochen und putzen. Und fürs Bügeln brauche ich wirklich jemand. Natürlich würde sie auch Miete zahlen. Sie ist ein sehr stolzes Mädchen. Sagen wir, so ungefähr ein Drittel ihres Gehalts.«
»Wir haben keinen Platz«, sagte Angus. Das Haus, in dem sie wohnten, war sehr klein, der einzige Grund, weshalb sie sich darin wohl fühlten. Doch Brenda meinte, Bobbos Zimmer würde während des Semesters sowieso leerstehen.
»Es ist nicht richtig«, sagte sie. »Ein leeres Zimmer ist einfach nicht richtig .«
»Du hast schon in so vielen Hotels gewohnt«, sagte er, »daß du anfängst, wie ein Hotelmanager zu denken. Aber ich verstehe, was du meinst.«
Brenda und Angus hatten beide das Gefühl, ohne es laut aussprechen zu wollen, daß Bobbos Kindheit und Abhängigkeit nun lange genug gedauert hatte: zu lange, um genau zu sein.
Sein Zimmer sollte mittlerweile wirklich frei sein, damit sie es nach eigenem Belieben verwenden konnten. Elternschaft konnte nicht ewig dauern. Und wenn sie das Zimmer voll haben wollten, dann wäre es mit Ruth mehr als voll. »Bobbo kann ja jederzeit auf dem Sofa schlafen«, sagte Brenda. »Es ist sehr bequem.«
Bobbo war überrascht und verärgert, als er Weihnachten heimkam und man ihm das Sofa als Bett anbot. Seine alten Schulbücher waren aus dem Regal verschwunden, um für Ruths flache, ausgetretene Schuhe Platz zu machen.
»Betrachte Ruth als Schwester«, sagte Brenda. »Die Schwester, die du nie gehabt hast!«
Aber Bobbo war, wie es bei Einzelkindern häufig der Fall ist, vom Gedanken an Inzest unter Geschwistern fasziniert, nahm die Worte seiner Mutter als Rechtfertigung für die Erfüllung seiner Phantasien und kroch mitten in der Nacht in das Bett, das schließlich trotz allem sein Bett war. Ruth war warm und weich und breit, und das Sofa war kalt und hart und schmal. Er mochte sie. Sie lachte ihn nie aus oder äußerte sich verächtlich über seine sexuellen Darbietungen, wie Audrey Singer, das Mädchen, in das Bobbo gerade verliebt war. Bobbo fand, es geschah Audrey recht, daß er Ruth, diesen gewaltigen willigen Berg, verführt hatte. Es war sexueller Selbstmord der dramatischsten Art.
»Sieh nur, was du getan hast!« sagte er in seinem Herzen zu Audrey. »Sieh nur, wohin du mich getrieben hast! Zu Ruth!« »Sieh nur«, sagte er in seinem Herzen zu seiner Mutter, gleich ein paar Fliegen mit einer Klappe schlagend, »sieh nur, was geschieht, wenn du mich aus meinem eigenen Zimmer wirfst, aus meinem eigenen Bett. Ich steig’ einfach trotzdem rein, ganz egal, wer drinnen liegt.«
Ruth war mit der neuen Situation durchaus zufrieden. Sie trug das Wissen um ihre geheime Liebe tief in ihrem Herzen verborgen und fühlte sich mit der Welt versöhnt; sie war einfach nur größer als andere, was aber schließlich nicht mehr auffiel, wenn sie sich hinlegte. Als die neue Frau ihres Stiefvaters zu Weihnachten anrief, um sich nach ihrem Befinden zu erkundigen, konnte sie wahrheitsgemäß antworten, daß es ihr sehr gut ginge, was es dem zuvor schuldbewußten Pärchen ermöglichte, sie ganz zu vergessen. Kurz darauf schrieb Ruths Mutter, dies wäre der letzte Brief, den sie ihr jemals schreiben würde, da ihr neuer Ehemann wünschte, sie solle ihre Vergangenheit endgültig hinter sich lassen, und außerdem gehörten sie beide nun einer wunderbaren neuen Religionsgemeinschaft an, die von der Ehefrau absoluten Gehorsam ihrem Mann gegenüber forderte. Diese Hingabe, so schrieb Ruths Mutter, bringt Frieden. Sie gab ihr ihren Segen (und auch den des Meisters, denn ihr war gestattet worden, ihn persönlich wegen Ruth um Rat zu fragen; der Meister war der Repräsentant der Großen Einheit auf dieser Erde, so wie die Frau die Repräsentantin des Mannes war) und brachte ihre Dankbarkeit zum Ausdruck, daß Ruth nun erwachsen war und sich um sich selbst kümmern konnte. Größere Sorgen bereiteten ihr Miranda und Jocelyn, die noch so jung waren, doch der Meister hatte ihr gesagt, daß alles gut werden würde. Der Brief war ein letzter, endgültiger, liebevoller Abschiedsgruß.
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