Die letzten drei Minuten waren ein einziger Nichtangriffspakt. Ein paar Bälle, die einfach hin und her geschoben wurden.
Und dann kam der Pfiff.
Ich saß noch auf der Tribüne, als die Spieler von 20.000 durchdrehenden Fußballfans in den Arm genommen wurden. Mein Vater und ich gingen langsam die Treppen hinunter, während auf dem Spielfeld die Party abging. Es war klar, dass mein Vater noch etwas zu erledigen hatte und wir daher früher gehen mussten, was natürlich ein Skandal war, wie konnten wir jetzt nur verschwinden? Ein quengelndes „Ich will auf den Rasen!“ wechselte sich mit einem ungehaltenen „Ich muss noch zur Arbeit!“ ab. Dieser Ping-Pong-Dialog dauerte einige Minuten. Während ich immer biestiger wurde, geriet er fast ins Schreien und irgendwann standen wir beide mit verschränkten Armen voreinander, ohne dass auch nur einer bereit war, einen Zentimeter Platz zu machen. Dann knickte er ein: „Alles klar, ein einziges Mal. Ich geb dir fünf Minuten.“
Den letzten Teil des Satzes hörte ich nur noch aus fernem Hintergrund. Ich spurtete über den Parkplatz, rannte auf ein offenes Tor zu und stürzte mich ins Stadion. Kein Kilo meines Körpers konnte mich aufhalten, der Dicke on tour, seht her, da nimmt er wieder Fahrt auf.
Schon mit meiner Geburt hatte ich eine herausragende Chance liegen gelassen, der Start mit einem Sieg gegen Schalke 04 wäre schließlich erheblich besser gewesen als die 2:4-Niederlage gegen die Pillendreher aus Leverkusen. Und auch jetzt kam ich zu spät.
Die Feierlichkeiten hatten sich vorerst gelegt. Die Aufstiegshelden waren in der Kabine verschwunden und ließen dort die ersten Sektkorken knallen. Auf dem Rasen versammelten sich die MSV-Fans und warteten darauf, dass die Elf auf der Tribüne erscheinen würde. Die erste Euphorie war dahin, es wurden neue Kräfte gesammelt, gleich würde es von vorne losgehen, aber jetzt ein kurzer Moment der Ruhe, um das Geschehene zu verarbeiten.
Ich war neidisch auf jeden, der diesen Moment miterlebt hatte, live am Spielfeldrand: Nur noch ein paar Sekunden, Lienen wetzt an dir vorbei, du spürst seinen Atem, seine heraushängende Zunge ganz nah an deinem Gesicht. Schweiß- und Biergeruch, das durchgeschwitzte Trikot, drei Meter von dir entfernt wartet Notthoff auf ein Zuspiel: „Spiel, Ewald, spiel!“, „Sauber, der Ewald, ganz stark!“
Näher kann man als Fan dem Spielfeld nicht kommen. So lustig es vielleicht auch sein mag, nackt auf das satte Grün zu spurten, um dort, Geschlechtsteil an Geschlechtsteil Oliver Kahn zu umarmen; am Spielfeldrand zu stehen und zu hören, wie die Spieler kommunizieren, wie ihr dynamischer Körper aus der Nähe aussieht, wie sie Bälle stoppen und verarbeiten, was sie auf dem Spielfeld sehen und wie sie diese Situationen lösen; mit welcher Inbrunst sie dem Ball hinterherwetzen, mit welcher Gier sie auf dieses Ding heiß sind und welche Mischung aus Erschöpfung und Euphorie in ihre Gesichter eingestanzt ist; das alles blieb mir vorenthalten. Oder der Moment des Abpfiffs. Der Moment, wo sich Spieler und Fans eines der wenigen Male im Kollektiv begegnen. Wo der heilige Platz, dieses magische Rechteck, auf dem sich all jenes abspielt, freigegeben wird, um einen der rauschhaftesten Zustände seines bisherigen Fan-Daseins zu erleben; auch das war vorerst vorbei. Gleich würden sie wieder sauber getrennt auf zwei verschiedenen Ebenen stehen, oben die Helden und unten die Fans. Andersherum als sonst, im Prinzip aber dasselbe. Ich hatte den Moment einfach verpasst.
Aus bisherigen Garagen- und Schulhoferfahrungen wusste ich, wie man mit solchen Situationen umzugehen hatte. Wenn nichts mehr ging, Meiderich grau in grau im Nachmittag versank, die Von-der-Mark-Straße, die Flaniermeile der sonnengebräunten Spielsüchtigen und Vormittagssäufer, sich langsam, aber sicher leerte und nur noch trübe Rentnerpärchen in einer schäbbigen Eckbäckerei auf ihren Tod warteten, brachte man in diese depressive Stimmung des Untergangs und der Melancholie ein bisschen Glanz, wenn man sich vorstellte, wie der Dicke zu sein. Ein Kraftbündel auf einem abschüssigen, asphaltierten, sporadischen Fußballfeld, unter den Füßen die aufgemalten Hüpfspiele bescheuerter Mädchen, denen man den Ball einfach gegen den Kopf schoss, wenn man sie im Endspiel um die deutsche Meisterschaft, den Aufstieg, den Pokalsieg als störend empfand.
Ich stellte mir den Moment vor, als alle auf einmal losspurteten. Mit Händen um sich werfend und voller Adrenalin. Einmal diesen Moment erleben, dieses Gefühl, welches wohl so ähnlich sein muss wie die Reaktion, die ein erzielter Treffer beim Schützen auslöst. Der Philosoph Sloterdijk nannte dieses wilde Durchdrehen auf den Spielfeldern dieser Welt „pornografisch“ und er hat damit vollkommen recht. Wo sonst kann man sich derart entblößen, stöhnen und stammeln, und das auch noch in aller Öffentlichkeit?
Ich ließ also durch den Innenraum streunende MSV-Fans wie Slalomstangen stehen, rannte bis zum Spielfeldrand, ging an die Seitenauslinie und wartete einen Augenblick. Dann riss ich die Arme in die Höhe, im Kopf den Pfiff des Schiedsrichters, hinter mir diese wahnsinnige Tribüne, ein Monstrum an Bauwerk, unter mir der heilige Rasen. Dann spurtete ich los, rannte von vorne bis hinten und schrie die ganze Zeit mit wedelnden Armen, bevor mir irgendwann die Puste ausging und ich mich schwitzend auf den Rasen fallen ließ.
Ich gehe mit ziemlicher Sicherheit davon aus, dass sich ein Großteil der Umstehenden die Frage stellte, ob man an mir die Wirkung von LSD ausprobiert hätte. Und ich hoffe immer noch, dass die meisten begriffen, dass ich nicht anders konnte.
Mein erster Rausch.
Mein erster Orgasmus.
Mit zehn.
Ein kurzer Nachtrag, der nötig ist, um mit ein paar Unkorrektheiten aufzuräumen. Bis heute verklären viele den Dicken. Man attestiert ihm einen feinen Torriecher und die viel beschworene Abgewichstheit. Niemand kann sich vorstellen, dass der Dicke sich tatsächlich bewegt hat, in den Kneipen und Pommesbuden der Ruhrrepublik sah man davon schließlich nichts. Wie sehr man sich täuschen kann, erfuhr ich Jahre später, als mir ein Video des schnellsten Hattricks der Bundesligageschichte in die Hände fiel.
Falls es die Bezeichnung „das Spiel meines Lebens“ wirklich und wahrhaftig gibt, dann war das Spiel gegen den Karlsruher SC DAS Spiel, Michael Tönnies’ wahnsinnige Galashow, die nur deswegen keine Karriere machte, weil er sie leider im Trikot des MSV Duisburg über die Bühne gebracht hat und nicht bei Bayern München oder Borussia Dortmund, die ihn umgehend in den Pantheon des Fußballwahnsinns gehoben hätten. Faktisch, und dies sei hier nur kurz angemerkt, handelte es sich bei diesem Amoklauf um einen der spektakulärsten der Bundesligageschichte. Es gibt einen einzigen Spieler, der mehr Tore in einem Spiel geschossen hat: Dieter Müller vom 1. FC Köln 1977 im Spiel gegen Bremen, der sechsmal traf. Es gibt einige, die fünfmal getroffen haben: Jürgen Klinsmann, Dieter Hoeneß oder Gerd Müller, dem dieses Kunststück satte viermal gelang. Es gibt aber nur einen schnellsten Hattrick der Bundesligageschichte.
Das Band in den Videorekorder. Es fängt sporadisch an, der MSV drückt, spielt offensiv und für einen Aufsteiger mutig. In der zehnten Minute nimmt Michael Tönnies gekonnt eine Flanke an, fackelt nicht lange und versenkt das Ding schnörkellos aus wenigen Metern im Kasten des KSC. Auftakt nach Maß, besser kann es kaum laufen.
Natürlich kann es das, wir sind hier schließlich beim Fußball. Eine Minute später düpiert Vladimir Liuty die komplette linke Seite und schlägt eine Flanke in den Strafraum. Der Dicke macht den ersten Haken, den zweiten. Der Gegenspieler kommt überhaupt nicht mehr mit. Entgegen aller sonstigen Erwartungen drückt der Dicke seinen Körper zwischen Ball und Gegenspieler und steht mit dem Rücken zum Tor. Er setzt zu einer Mischung aus Fallrückzieher und Seitfallzieher an und haut das Ding ins lange Eck, genau dorthin, wo ein Torhüter nicht mehr herankommen kann. Das zweite Tor in zwei Minuten. Wahnsinn.
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