»Sind die Juwelen im Majestic?«, fragt er, nachdem er sich geräuspert hat.
»Sie reden nicht um den heißen Brei herum, was? Wenn ich Ihnen antworte, woher soll ich dann wissen, dass Sie Ihr Versprechen halten?«
»Verzeihung, aber bis jetzt habe ich noch nichts versprochen.«
»Lehnen Sie also ab? Glauben Sie, dass Sie Jim zum Reden bringen? Sie kennen ihn nicht. Er ist dickköpfiger und sturer als eine Frau und … Wie spät ist es eigentlich?«
»Halb zwölf …«
Aber, aber! Warum wirkt es, als steigerte sich dadurch ihre Nervosität? Könnte es der Zeitpunkt sein, zu dem ihr Bruder James ins Majestic zurückkommen sollte, oder …
»Noch ein Tanz?«, fragt er.
»Nein danke. Ich bin langsam ein bisschen müde. Abgesehen davon, dass ich mir Sorgen um meinen Bruder mache und dass … Schenken Sie mir noch ein Glas Champagner ein?«
Ihre Hand zittert nervös. Émile hält die Flasche in der Hand und beugt sich über den Tisch. Das Letzte, was er sieht, sind ihre Augen, denen er jetzt sehr nahe ist, und es scheint, als funkelten sie ironisch.
Er hat keine Zeit, lange darüber nachzudenken. Genau in diesem Moment ist der Raum stockdunkel. Man kann die Kellner herumhuschen hören. Paare stoßen zusammen und lachen.
»Bewegen Sie sich nicht, Mesdames, Messieurs. Nur einen Moment Geduld, bitte. Eine Sicherung ist rausgesprungen …«
Émile versucht, seine Begleiterin festzuhalten, aber seine Hände greifen ins Leere. Er steht auf und geht geradeaus in Richtung der Tür und der Treppe, aber die Leute versperren ihm den Weg, und als er sie zur Seite schieben will, protestieren sie.
»Was glaubt der denn, wo er hinläuft?«
»Was für ein Rüpel!«
Die Lichter gehen wieder an. Dolly ist nirgendwo zu sehen. Aber heißt sie denn überhaupt Dolly? Oder Denise? Oder ganz anders? Émile geht nach unten zur Garderobe.
»Haben Sie vielleicht eine junge Frau gesehen, die …«
»Die, die gerade nach draußen gegangen ist, weil ihr nicht gut war? Ich wollte ihr ihren Mantel geben, aber sie hat gesagt, dass sie nur kurz Luft schnappen will.«
Natürlich auch draußen keine Spur von Denise-Dolly. Émile steht ohne Hut und im Smoking auf dem leer gefegten Gehweg unter der Leuchtreklame des Casino de Paris, als ein Taxi vorfährt. Torrence steigt aus.
»Wo ist er hin?«, fragt Torrence.
Émile runzelt die Stirn. Er fragt sich, ob Torrence …
»Hast du ihn entwischen lassen, Chef? Stell dir vor, was wir rausgefunden haben, als wir das Gepäck durchsucht haben: Bruder und Schwester sind ein und dieselbe Person! Offensichtlich ein Mann!«
»Oder eine Frau«, entgegnet Émile.
»Auf jeden Fall eine ziemlich heiße Sache.«
»Das kommt davon, wenn man Zurückhaltung übt«, seufzt der rothaarige junge Mann. »Während sie sich im Hotel umgezogen hat, hab ich die meiste Zeit hinter einem Paravent gestanden. So hatte sie die Gelegenheit, eine Nachricht zu schreiben. Als wir im Pélican ankamen, muss sie dem Maître oder einem der Kellner den Zettel zugesteckt haben, vermutlich mit einem dicken Schein.
Bitte machen Sie um Punkt halb zwölf für einen Moment alle Lichter aus .
Und zu dem Zeitpunkt hat sie mich auch gebeten, ihr noch etwas Champagner einzuschenken, damit ich eine Flasche in der Hand hatte.«
Torrence sagt nichts. Vielleicht macht es ihn gar nicht so unglücklich, zu sehen, dass selbst sein merkwürdiger Chef auf so einen simplen Trick hereinfallen kann. Nach langem Zögern traut er sich zu fragen:
»Bist du sicher, dass sie dir nichts aus den Taschen geklaut hat?«
IV Wo Torrence über die Untätigkeit seines Chefs entsetzt ist und Letzterer endlich doch noch ein paar Anweisungen gibt
Drei Uhr morgens in der Cité Bergère. Torrence hat auf dem Elektrokocher Wasser heiß gemacht und bereitet Kaffee zu. Émile hat sich auf einer schmalen Couch ausgestreckt und starrt an die Decke.
»Was ich nicht verstehe, falls es dich interessiert, wie ich darüber denke«, sagt Torrence schließlich, »ist, dass du nicht mal ins Majestic rübergehst, um nachzusehen. Ich gebe zu, dass Barbet selten irgendeinen Hinweis übersieht. Und habe selbst alles noch mal überprüft …«
Émile reagiert nicht. Schwer zu sagen, ob er Torrence’ Stimme überhaupt hört. Es sieht eher nicht danach aus.
»Kurz und gut, wie ist die Lage? Wir wissen nur, dass der Einbrecher, ob Mann oder Frau …«
»Frau«, fällt Émile ihm trübselig ins Wort.
Er hält es für unangebracht hinzuzufügen, dass er sie, als sie ein paar Stunden zuvor miteinander getanzt haben, so fest an sich gedrückt hat, dass er an ihrer Weiblichkeit keine Zweifel hegt.
»Meinetwegen. Also wie ich schon sagte, wir haben den Beweis, dass die Einbrüche von einer Frau begangen wurden und dass sich diese Frau unter den Namen Dolly Morrison und James Morrison im Hotel Majestic eingetragen hat, was wohl recht praktisch war. Denn so konnte sie mal als junge Frau, mal als junger Mann auftreten. In einem Hotel von der Größe des Majestic wäre es kaum jemandem aufgefallen, dass sie nie zusammen gesehen wurden. Und was die Frage betrifft, ob sie nun wirklich Glatzenteddys Tochter ist … Wer immer sie auch ist, sie ist uns entwischt. Bleibt nur noch eine Frage, die einzige, die überhaupt noch zählt: Wo hat sie die Juwelen versteckt? Denn wir können sicher sein, dass sie dort auftauchen wird, wo sich der Schmuck befindet. Das Majestic wird überwacht. Wir haben in keinem der beiden Zimmer etwas gefunden. Und sie hat auch nichts in einem der Hotelsafes deponiert.«
Émile meldet sich mit verträumter Stimme:
»Für einen Polizisten bist du wirklich gesprächig, Torrence!«
»Und du bist wirklich apathisch! Ich frage mich allmählich, ob dir klar ist, dass uns die Zeit davonläuft. Sicher, ich habe der Polizei ein Bild von unserer süßen kleinen Gangsterbraut gegeben, und im Augenblick beobachten die jeden Bahnhof und jeden Hafen.«
»Hör mal, Torrence, wenn du nicht deine Klappe hältst, gehe ich raus und lege mich auf den Treppenabsatz.«
Nun, mal sehen … Wenn also … Wegen Torrence’ Geschwätzigkeit muss Émile mit seinen Überlegungen von vorne anfangen. Wenn also diese Frau dreizehn Einbrüche begangen hat, wenn sie sich zwei Zimmer in einem großen Pariser Hotel leisten kann, wenn noch keins der Schmuckstücke verkauft wurde, wenn sich die Juwelen offensichtlich nicht im Hotel befinden …
»Gibst du mir bitte eine Tasse Kaffee, Torrence?«
Was hat Glatzenteddy in so einem Fall gemacht? Wir wissen es nicht, denn er hat nie mit jemandem über seine Methode gesprochen. Aber zumindest von einer Sache ist Émile überzeugt: Das Mädchen hat nicht gelogen. Sie ist wirklich Glatzenteddys Tochter. Und es ist durchaus möglich, dass sie diese Einbrüche begangen hat, um ihren Vater aus dem Gefängnis freizukaufen.
Das ergibt alles einen Sinn. Es klingt nach der Wahrheit …
Gut! Sie ist also in Paris. Erfolgreich dreht sie ihr erstes Ding auf dem Boulevard de Strasbourg. Dann folgt ein Einbruch dem anderen, fast wöchentlich.
Was macht sie mit ihrer Beute? Das ist die Hauptfrage. Was macht sie mit den Juwelen, bis sie genug zusammen hat, um ins Ausland zu reisen und sie dort zu verkaufen?
Als wäre er den Gedankengängen seines Chefs gefolgt, ruft Torrence, während er eine zweite Kanne Kaffee macht:
»Sie muss irgendwo in Paris noch einen Unterschlupf haben.«
»Ich wette dagegen.«
Warum? Erstens, weil sie zu klug dafür ist. Und zweitens, weil sie genauso verfährt wie ihr Vater, der während seiner langen Karriere nur einmal geschnappt wurde, und weil sie diese Arbeitsweise durch äußerste Sorgfältigkeit perfektioniert.
Abgesehen davon hat die Polizei, obwohl Glatzenteddy jetzt schon seit einigen Monaten sitzt, noch nicht eins der gestohlenen Schmuckstücke gefunden!
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