Besser wird es für den Unparteiischen in der Folge dann auch nicht mehr. Hat er einigermaßen Glück, verzichten die Vereine zumindest auf das Abspielen der Champions-League-Hymne beim Einlaufen der Mannschaften. Anschließend folgt das rituelle Gemeckere der 22 Spieler auf dem Platz, die sich offensichtlich die gesamte Woche über im Trainingsbetrieb ausschließlich mit dem Fußballregelwerk auseinandergesetzt haben. Mit ihrem neu erworbenen Fachwissen wollen sie nun – hilfsbereit wie sie sind – den Schiedsrichter in seiner Arbeit unterstützen. Ein Hinweis auf „Zeitspiel!“ in der fünften Minute, ein „Ball gespielt!“ nach einem Zweikampf mit Tötungsabsicht – und natürlich der voller Inbrunst vorgetragene Einwand, dass es „definitiv gleiche Höhe“ und „niemals Abseits!“ gewesen sei. Auch dann nicht, wenn der betroffene Spieler beim Abspiel schon kurz vor Konstantinopel stand.
Bemerkenswert ist überdies die Fähigkeit vieler Spieler, ihr eigenes Gebaren durch das Verhalten des Schiedsrichters zu erklären. Selbst wenn im Personalausweis das Geburtsjahr 1978 angegeben ist – die eigene Mündigkeit scheint mancher Kicker mitsamt seinem Schamgefühl bei der Passkontrolle an den Unparteiischen abgegeben zu haben. Wenn ein Spiel vollkommen aus dem Ruder läuft, jeder Einwurf von einer ausgewachsenen Rudelbildung begleitet wird und der Torhüter sich in der Halbzeitpause noch einmal die irrsten Ausraster von Oliver Kahn auf YouTube anschaut, ist daran natürlich der Schiedsrichter schuld. Diesem ist die Leitung des Spiels schließlich bereits in der Anfangsphase der Partie entglitten, als er es versäumte, ein Trikotziehen mit der Gelben Karte zu ahnden. Klare Sache. Und nun müssen mal wieder die Spieler die Folgen dieser Inkonsequenz ausbaden. Das ist für jeden auf und neben dem Platz ersichtlich. Müßig zu erwähnen, dass jeder der Anwesenden gerade frisch vom Schiedsrichterlehrgang zurückgekehrt ist.
Ich gebe zu: Auch ich gehörte lange Jahre zu jener Sorte Spieler, die keine Situation ausließen, jede noch so bedeutungslose Entscheidung des Schiedsrichters in Frage zu stellen. Daran änderte auch die Tatsache nichts, dass ich als Kapitän vor dem Spiel meine Mannschaft streng darauf hinwies, dass heute „keiner einen Ton gegen den Schiedsrichter“ abzugeben habe. Die erste Beschwerde richtete ich in der Regel meist schon infolge der Platzwahl gegen den Unparteiischen. Gelegentlich überkam mich im Laufe des Spiels allerdings dann doch das schlechte Gewissen. In einem Pokalspiel ließ ich mich wenige Minuten vor Schluss bei einer 5:1-Führung im Angesicht des historischen Erfolgs im Kreispokal gar zu einer wahren Demutsgeste hinreißen: „Respekt, Schiri. Du hast es echt schwer mit unseren dümmlichen Sprüchen.“ Die Folge: Ich bekam von ihm die Gelb-Rote-Karte gezeigt. Warum? „Sie haben mich beleidigt.“ – „Was habe ich?“ – „Sie haben gesagt, ich mache dümmliche Sprüche.“ Fassungslos brachte ich zunächst einige Sekunden kein Wort heraus. Aber da es nun auch egal war: „Dümmliche Sprüche? Was soll das denn heißen? Das macht doch überhaupt kein Sinn, du Arschloch!“
Übrigens: Für Schiedsrichterbeleidigung wird man als Spieler von Verbandsseite aus mittlerweile wirklich drakonisch bestraft. Immerhin.
Sie nannten ihn Mücke
Zeichen setzen, Mitspieler anschreien, Zuschauer beleidigen – die Aufgaben eines echten Führungsspielers sind vielfältig. Kein Wunder, dass der eine oder andere auch mal über das Ziel hinausschießt.
Es ist der typische Vorwurf an jede einigermaßen erfolglose Fußballmannschaft: Den Spielern fehle es an der nötigen Mentalität, dem Hunger, der Aggressivität, der Leidenschaft – oder schlichtweg dem „richtigen Biss“ auf dem Platz. Wenn es hart auf hart komme, der Gegner mit unlauteren Mitteln spiele oder sich in fünf Metern Entfernung ein Pressschlag abzeichne, sei man gedanklich schon beim Saisonabschluss im Bierkönig. Punkte würden reihenweise verschenkt, weil die Mannschaft nicht in der Lage sei, Woche für Woche an ihre Schmerzgrenze zu gehen – und natürlich auch nicht darüber hinaus. Schönwetterfußballer! Es müsse in den Zweikämpfen richtig zur Sache gehen, im Zweifelsfall „auch mal ordentlich kleppern“, wie Abteilungsleiter, Vereinsvorstand und Kassenwart dem Trainer in ihrer Analyse zur Winterpause unisono darlegen. Und um diese Demontage zivilisatorischer Errungenschaften auch vernünftig umzusetzen, habe man sich um die Verpflichtung eines neuen Spielers bemüht. Allerdings nicht irgendeines Spielers! Man habe einen echten Führungsspieler für den Verein gewinnen können. Einen, der voran gehe und die anderen mitreiße. Einen „Aggressive Leader“, wie man so schön sagt.
Aggressive Leader kennt der Trainer aus der Bundesliga. Sie heißen van Bommel, Effenberg oder Vidal und spielen vornehmlich bei den Bayern. Man erkennt sie daran, dass sie grundsätzlich mit Schienbeinschonern trainieren und auf alles treten, was sich bewegt – aber eben nicht als Spieler gelten, die auf alles treten, was sich bewegt. Begehen sie ein unnötiges Frustfoul am Mittelkreis, haben sie schlichtweg „ein Zeichen gesetzt“. Beschimpfen sie die Zuschauer, bringen sie die „nötige Portion Feuer“ in die Partie. Schlagen sie dem gegnerischen Maskottchen mit der Faust ins Gesicht, wird darüber geschmunzelt. Er sei halt ein temperamentvolles Bürschchen, dieser Aggressive Leader.
Einen zusätzlichen Schub für die Mannschaft erhofft sich die Vereinsführung selbstverständlich auch von der Neuverpflichtung, die den Verein in die Bezirksliga führen soll. Doch schon nach kurzer Zeit wird klar, dass man den Teufel zum Tanz gebeten hat – denn der Aggressive Leader entpuppt sich in der Vorbereitung als reines Nervenbündel. Bei ihm brennen bereits alle Sicherungen durch, sobald er das Vereinsgelände nur von Weitem sieht. Betritt er das Clubhaus, erinnert er an Bud Spencer, der in einer Western-Kneipe für geordnete Verhältnisse sorgt. Und weil er einen kompletten Dachschaden hat, stellt er sich auch gleich mit einem entsprechenden Spitznamen vor: Mücke, Bomber oder Plattfuß. Da lacht der Stammtisch in der Ecke. Und da lacht der Clubwirt, denn er weiß: An solch einen Irren kann er über kurz oder lang eimerweise Gurkenwasser loswerden, das er ihm als „Elektrolyte-Wunder“ verkauft. Die Mitspieler hingegen sind einigermaßen fassungslos, dass sich der Neue bereits beim Umziehen kaum unter Kontrolle hat und von jedem fordert, in eine aufgeschnittene Zitrone zu beißen. Anschließend verteilt er Backpfeifen an die Teamkameraden. Damit „jetzt alle mal aufwachen“, wie er auf Nachfrage erläutert.
Für den Kreisklassen-Aggressor sind das alles allerdings keine Psychospielchen oder gewiefte Motivationstricks. Er meint den ganzen Blödsinn durchaus ernst. Vor dem Einlaufen schmiert er sich noch etwas Dreck ins Gesicht und inszeniert das folgende Fußballspiel als Nachstellung des Korea-Krieges. Und tatsächlich geht es für ihn bei nahezu jeder Grätsche um Leben und Tod. Es ist müßig zu erwähnen, dass er bei den wenigsten Spielen den Abpfiff auf dem Platz erlebt. Um ihn vor sich selbst zu schützen, wird er für gewöhnlich in der 50. Minute vom Platz genommen. Da er nun jedoch an der Seitenlinie herumtobt wie das Rumpelstilzchen nach einer misslungenen Gehirnoperation, wird er vom Trainer kurzerhand zum Clubwirt geschickt – um seinen Elektrolyte-Haushalt mit einem neuen Wundermittel aufzufüllen. Kollektives Durchatmen bei Trainer und Mitspielern.
Andererseits – im Zweifelsfall ist auf den kleinen Hitzkopf immer Verlass. Während andere nicht zum Training kommen, weil die Schwägerin ihrer Tante Geburtstag hat, geht er nicht zur Beerdigung seiner eigenen Mutter, weil ein lockeres Auslaufen angesetzt ist. Gerät ein Mitspieler beim Mannschaftsabend in der Kneipe in Schwierigkeit, löst er den Konflikt in seiner gewohnt-diplomatischen Art. Und kommt nach einer Grätsche auf dem Ascheplatz unter diversen Hautfetzen seine Kniescheibe zum Vorschein, wickelt er etwas Panzertape um sein Bein und fährt sich anschließend selbst in die Notaufnahme.
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