Philosophische Essays über die Pandemie und ihre Folgen
Herausgegeben von Geert Keil und Romy Jaster
Reclam
2021 Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen
Covergestaltung: zero-media.net
Coverabbildung: FinePic
Gesamtherstellung: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen
Made in Germany 2021
RECLAMist eine eingetragene Marke der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart
ISBN 978-3-15-961836-4
ISBN der Buchausgabe 978-3-15-011349-3
www.reclam.de
Vorwort
Die Philosophie und die Pandemie
Bereits im Jahr 2015 hat die Gesellschaft für Philosophie (GAP) eine Preisfrage zu einer aktuellen gesellschaftlichen Herausforderung ausgeschrieben. Damals, auf dem Höhepunkt der sogenannten Flüchtlingskrise, lautete die Frage an die philosophische Zunft: »Welche und wie viele Flüchtlinge sollen wir aufnehmen?« Zur Teilnahme aufgerufen waren alle akademischen Philosophinnen und Philosophen, vom Studenten bis zur Professorin. Die besten Essays wurden zwischen zwei Buchdeckeln versammelt.1
Als im Frühjahr 2020 die Covid-19-Pandemie die Welt in den Griff nahm, wurde schnell klar, dass diese Herausforderung sich nicht wie andere Krisen angehen lässt: Wegsehen, auf die lange Bank schieben und Symbolpolitik waren diesmal keine Optionen. Die Menschheit kämpft seither gegen die Ausbreitung einer Viruskrankheit, die bis Ende 2020 fast zwei Millionen Opfer gefordert und in einigen Ländern katastrophenartige Zustände ausgelöst hat. Das Virus hat sich auf allen fünf Kontinenten verbreitet; zu Wasser und in der Luft findet es nur deshalb kaum noch Wirte, weil die Pandemie den Luftverkehr und die Kreuzfahrtschifffahrt weitgehend zum Erliegen gebracht hat. Aus Europa werden nicht zuletzt die Bilder aus Norditalien im Gedächtnis bleiben: Ärztinnen und Ärzte am Ende ihrer Kräfte, die völlige Überlastung der Krankenhäuser, Leichen, für die es keinen Platz mehr in den Kühlhäusern gab. Erschütternd waren die Briefe sterbender Menschen, die ihre Angehörigen nicht noch ein letztes Mal sehen konnten.
Auf diesen Schock reagierten viele Länder mit einem Lockdown, der in alle Lebensbereiche ausstrahlte: Wirtschaft, Reisen, Kulturveranstaltungen, Sport, Religionsausübung, Schulen, Universitäten, Freundschaft und Familie. Noch nie gab es zu Friedenszeiten so große Einschränkungen des öffentlichen Lebens. Es wurde schmerzhaft klar, dass der Schutz des Lebens und der Gesundheit mit anderen wichtigen Gütern in Konflikt geraten kann.
Eine Krise dieses Ausmaßes befeuert vielfältige gesellschaftliche Debatten, zu denen auch die Philosophie etwas beizutragen hat. Die GAP hat daher erneut einen Essay-Wettbewerb ausgerichtet. Das Thema war der Titel dieses Bandes: Nachdenken über Corona . Wir haben uns bewusst für diese Formulierung entschieden, um es den Beitragenden offenzuhalten, welche Fragestellung sie aus der Vielzahl möglicher philosophischer Anknüpfungspunkte herausgreifen wollen. Dass diese Offenheit im Sinne der Teilnehmerinnen und Teilnehmer war, sieht man daran, welch unterschiedliche philosophische Zugänge die Autorinnen und Autoren dieses Bandes gewählt haben (die Ausschreibung findet sich am Ende dieser Einleitung abgedruckt).
Die vielfältigen Herausforderungen betreffen die Philosophie in ihrer ganzen fachlichen Breite – nicht nur die politische Philosophie, die Ethik und die Sozialphilosophie, sondern auch zentrale Felder der theoretischen Philosophie wie die Erkenntnistheorie, die Naturphilosophie und die Wissenschaftsphilosophie. Es geht um Themen wie:
Güterabwägungen zwischen Gesundheit, Freiheit, Wohlstand,
staatliche Eingriffe in Freiheitsrechte und das Verhältnis von Freiwilligkeit und Zwang,
die Verhältnismäßigkeit von Maßnahmen im Ausnahmezustand,
medizinische Versorgungsengpässe, die Verteilung knapper Ressourcen (Intensivbetten, Impfstoff) und eine Ethik der Triage,
Selbstgefährdung, Fremdgefährdung und die Solidarität bei unterschiedlicher Verletzlichkeit von Bevölkerungsgruppen,
die Verlagerung wichtiger politischer Entscheidungen auf die Exekutive,
Herausforderungen des Entscheidens unter Unsicherheit,
die Erfolgsbilanz unterschiedlicher Politikstile und Gesellschaftsmodelle bei der Bewältigung der Krise,
Ökonomie und Verteilungsfragen,
systemrelevante Berufe und gerechte Entlohnung,
unser Verhältnis zu den anderen Tieren; Essgewohnheiten, Haltungsbedingungen und Zoonosen,
die Rolle wissenschaftlicher Expertise für Politik und Gesellschaft,
Meinungsverschiedenheiten zwischen Experten, Vorläufigkeit und Fehlbarkeit der Wissenschaft,
Herausforderungen für die Wissenschaftskommunikation,
Corona-Skepsis und Verschwörungstheorien,
die Gesellschaft als Wissens- und Vertrauensgemeinschaft,
Probleme von Corona-Warn-Apps, etwa beim Datenschutz.
Diese unvollständige Themenliste zeigt, wie breit das Spektrum der Aspekte ist, die angesichts der Corona-Krise zu bedenken sind. Die Pandemie und ihre Auswirkungen geben Anlass, nahezu alle Bereiche unseres Zusammenlebens neu zu verhandeln. Bei dieser Aufgabe werden uns die Expertinnen und Experten der Stunde – Virologen, Epidemiologinnen, Impfstoffforscher – nicht helfen können. Medizinisch wird die Pandemie früher oder später eingehegt sein. Bleiben werden die Fragen, die andere Arten von Expertise und nicht zuletzt philosophisches Nachdenken verlangen.
Die Philosophie in der Pandemie
Aus Sicht der analytischen Philosophie stellt die Kommentierung der Zeitläufte eine besondere Herausforderung dar: Der hohe Anspruch an die Philosophie, ihre Zeit – die Corona-Zeit – in Gedanken zu erfassen, ist kaum seriös einzulösen. Analytische Philosophinnen und Philosophen sind besser im sorgfältigen Zerlegen von Problemen als im Blick auf das große Ganze. Und sie stehen dazu: Die Erwartung, die Corona-Zeit bündig auf den Begriff zu bringen, würde die schiere Vielfalt der Herausforderungen verkennen. Und man sollte der Versuchung widerstehen, die Corona-Krise zur Bestätigung der je eigenen vorgefassten Globaldiagnose zu missbrauchen. Die analytische Philosophie hat ihre Stärken im nüchternen, sortierenden, begriffsklärenden und argumentierenden Problemzugriff. Es spricht einiges dafür, dass dieser Philosophiestil der Vielfalt und Komplexität dessen, was es zu bedenken gibt, besser entspricht als eine mit Aplomb vorgetragene Globaldiagnose. Die Philosophie der Pandemie gibt es schon deshalb nicht, weil Corona uns nicht die eine Lektion erteilt hat, sondern ziemlich viele Lektionen.
Die mediale Präsenz der akademischen Philosophie in der Corona-Krise war, wie erste Zusammenstellungen zeigen, beachtlich.2 Über den Ertrag der Wortmeldungen gehen die Meinungen auseinander. Im Feuilleton der Süddeutschen Zeitung war zu lesen, dass den Philosophen zu Corona »außer Banalitäten erstaunlich wenig« eingefallen sei, »die Originalität und Substanz der Wortmeldungen« sei gering gewesen. Zwar hätten die Philosophen neben einem »fröhlichen Einerseits-andererseits-Brei«, auch viel Richtiges gesagt, nur sei dieses Richtige »von anderen Beobachtern längst bemerkt« worden, »bevor es die Philosophen wiederholten«.3
Das ist eine wenig schmeichelhafte Einschätzung. Wenn man ehrlich ist, wird man sie nach Abzug des polemischen Überschusses nicht rundheraus zurückweisen können. Etliche Wortmeldungen aus der Philosophenzunft haben der Zunft keine Ehre gemacht. Dabei ist in Rechnung zu stellen, dass die knappen und häufig zuspitzenden Formate der Publikumsmedien philosophischen Überlegungen keinen günstigen Entfaltungsraum bereitstellen. Redaktionen und Teile der Öffentlichkeit mögen sich von Philosophen vor allem originelle Einsichten und steile Thesen erhoffen. Doch philosophisches Nachdenken zeichnet sich weniger durch die besondere Originalität der Thesen, sondern in erster Linie durch die Genauigkeit und Sorgfalt aus, mit der diese Thesen dargelegt, begründet und mit anderen Überlegungen in Zusammenhang gebracht werden. Wo Philosophie verblüffen will, verspielt sie ihre Stärken. Steile Thesen sind oft vor allem eines: falsch.
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