Lise Gast
Junger Wind in alten Gassen
Ein meist fröhlicher Roman
unter jungen Menschen
Saga
Junger Wind in alten Gassen
German
© 1960 Lise Gast
Alle Rechte der Ebookausgabe: © 2016 SAGA Egmont, an imprint of Lindhardt og Ringhof A/S Copenhagen
All rights reserved
ISBN: 9788711509661
1. Ebook-Auflage, 2016
Format: EPUB 3.0
Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für andere als persönliche Nutzung ist nur nach Absprache mit Lindhardt und Ringhof und Autors nicht gestattet.
SAGA Egmont www.saga-books.com– a part of Egmont, www.egmont.com
Im Hörsaal ist es heiß. Der Professor spricht fließend, aber einschläfernd monoton. Rose hat sich schon zweimal dabei ertappt, geträumt zu haben, richtig geträumt, nicht nur vor sich hingedacht. Ihr Kopf muß dabei heruntergesunken sein, und womöglich hat sie sogar geschnarcht. Zu Hause wird ihr nachgesagt, daß sie schnarche. Rose findet das eine abscheuliche und blamable Eigenschaft, deren man sich schämen muß. Und man kann nie kontrollieren, ob es wirklich stimmt.
Vielleicht erfindet einmal ein Arzt etwas gegen das Schnarchen. Vielleicht gelingt es ihr, Rose Hofer, und sie wird berühmt und bekommt – hoppla, schon wieder! Eben sah sie sich auf dem Podium, in einem schwarzen, dezent ausgeschnittenen Kleid, einen silbernen Pokal entgegennehmend, während rings alles applaudierte. Einen Pokal? Bekommt man denn, wenn man eine große medizinische Erfindung macht, einen Pokal wie eine siegreiche Fußballmannschaft? Jetzt hört das aber auf! Jetzt muß sie sich zusammennehmen, um wach zu bleiben. Rose kneift sich in den Arm und reißt die Augen krampfhaft auf. Frühjahrsmüdigkeit, weiter nichts. Geht allen so. Und schlafen etwa die andern alle?
Vor ihr, etwas tiefer – denn der Hörsaal ist ja im Halbkreis aufsteigend gebaut – sitzt ein junger Mann, den sie hier noch nie gesehen hat. Jedenfalls kommt ihr das so vor. Sein Gesicht kann sie nicht erkennen; aber dieser schmale Schädel mit dem ausgebauten Hinterkopf wäre ihr bestimmt aufgefallen. Sie hat sich eine Zeitlang eingehend mit Schädelkunde befaßt und würde ihn nie übersehen haben. Auch jetzt beginnt sie, mit den Blicken den Kopf abzutasten. Das dazugehörige Gesicht interessiert sie nicht. Gleich darauf muß sie stirnrunzelnd feststellen, daß der vor ihr Sitzende ebensowenig auf den Vortrag des Professors hört wie sie. Seine Schultern beben vor unterdrücktem Lachen – in Anatomie! Rose schüttelt ärgerlich den Kopf.
Sie nimmt das Studium sehr ernst. Im Kolleg müde zu sein, schon das erscheint ihr als eine Todsünde. Nun gar lachen!
Es ist doch nicht zu glauben! Der Schmalschädlige vor ihr lacht nicht nur, sondern steckt auch noch seinen Nachbarn damit an. Denn jetzt schiebt er ihm einen Zettel zu, und nun prustet der andere. Rose reckt sich und versucht, den Zettel zu erspähen. Einen Augenblick lang gelingt es ihr. Nein, da steht kein blöder Vers und keine Mitteilung, überhaupt kein Wort. Eine Zeichnung ist drauf, eine Karikatur: Der Professor, wie er leibt und lebt. Rose erkennt den, natürlich übertrieben betonten, Unterkiefer des Vortragenden, mit wenigen Strichen klar und lebendig hingeworfen, und empfindet Hochachtung vor dieser Leistung. Dabei aber runzelt sie die Stirn. Das sind doch Dumme-Jungen-Manieren!
„Mensch, ärgere dich nicht!“ flüstert in diesem Augenblick ihre Nachbarin ihr zu. Rose sieht sie an. Merkt man ihr so leicht an, was sie denkt?
„Sehr deutlich. Laß doch den beiden da vorn ihren Spaß. Die können sich’s leisten, der eine jedenfalls.“
„Wieso?“ fragt Rose, wider Willen interessiert. Die andere lacht.
„Er hat das Staatsexamen schon in der Tasche. Große Hoffnung am ärztlichen Horizont. Sich abzeichnendes Genie.“
„So? Von mir aus. Übrigens keine Kunst bei dem Hinterkopf.“
Nun prusten sie beide auch. Der Professor hebt ein wenig die Stirn und wirft einen strafenden Blick herüber. Rose hat ihre Gesichtszüge längst wieder geordnet und kritzelt eifrig in ihr Heft. Gleich darauf ist Schluß. Der Professor verbeugt sich, die Hörer klopfen Beifall. Rose steht auf und schiebt sich mit den anderen hinaus.
Sie denkt an die „tolle Begabung“ mit dem kindischen Benehmen und dem schön ausgeschwungenen Hinterkopf. Man könnte ja auch das Gesicht des jungen Mannes einmal betrachten, natürlich nur aus wissenschaftlichem Interesse. Sie verlangsamt ihren Schritt, ohne sich umzusehen, und freut sich, heute ihr neues Sommerkleid angezogen zu haben; es ist hell, längsgestreift und sportlich, und es macht ausgesprochen schlank. Rose dehnt sich, während sie das denkt; in diesem Augenblick macht es „Knacks!“, und ihr Gürtel fällt herunter. Der Druckknopf hat den beglückten Atemzug nicht ausgehalten.
Es gibt fatalere Situationen. Ein erwachsener Mensch wird vielleicht nicht einmal zugeben, daß dies fatal ist: den Gürtel des Sommerkleides zu verlieren. Rose aber fühlt, wie ihr Gesicht brennt, als ihr ein rasch zuspringender junger Mann – natürlich kein anderer als der, an den sie eben dachte – den Gürtel aufhebt und überreicht. Sie möchte, was unlogisch und ausgesprochen unfreundlich wäre – wer aber kennt sich in Frauenherzen aus? –, den Gürtel nehmen und ihm um die Ohren klatschen, einmal, zweimal – diesem hübschen und, wie ihre Nachbarin auch noch sagte, medizinisch so hochbegabten jungen Mann. –
In jedem Leben gibt es Pechtage. Sie vergehen und werden abgelöst von anderen, die neue Spannungen, Konflikte, Aufgaben und Freuden bringen. Ja, auch Freuden, selbstverständlich.
Rose, die ein wenig zu viel über sich und ihr Leben nachdenkt, hat sich gesagt, daß es Freuden geben müsse, schon um die Arbeitskraft anzutreiben. Deshalb reitet sie auch, was natürlich ein ziemlicher Luxus ist. Von ihrem Monatswechsel könnte sie es nicht bezahlen. Nun, da wird eben Blut gespendet und das so verdiente Geld dafür verwendet.
Reiten ist Rose nichts Neues, es gehört zu Hause ebenso dazu wie Radfahren. Freilich, auf den Ponys, auf denen sie genau wie ihre Geschwister reiten gelernt hat, gibt es nicht viel Dressur; man reitet fast nur „Gelände“, also wild. Manche sagen sogar „Wildwest“. Hier im Reitverein der Universität wird gedrillt und geschurigelt; aber auch das tut gut. Rose hat längst gemerkt, wie förderlich es dem inneren Menschen ist, wenn der äußere geschunden wird. Und geschunden wird man wahrhaftig, zumal wenn man mutig genug war, sich für den Fortgeschrittenen-Kurs anzumelden.
Heute zum Beispiel gibt es wieder einmal keine Gnade. Der Reitlehrer verlangt, daß „deutsch getrabt“, also „ausgesessen“ wird, bis den Schülern alle Glieder schnackeln, und am Schluß der Stunde kommt das Springen. Eine Reitstunde ist fast so anstrengend wie ein Kolleg.
„Die Herren noch einmal über das Hindernis. Reihenfolge wie bisher. Von den Damen nur, wer es sich zutraut. – Nun, meine Schönen?“
Die Stimme des Reitlehrers klingt sarkastisch. Rose hört es genau. Sie weiß, daß keine der andern Studentinnen es riskieren wird, nicht aus Angst vor dem Herunterfallen, sondern um sich nicht zu blamieren. Dieser frühere Kavallerist hält nichts von weiblichen Künsten im Sattel und macht kein Hehl daraus. Sie holt tief Luft.
Sultan, fest überzeugt davon, daß er seine Schuldigkeit getan und nun Ruhe verdient hat, ist wenig erbaut davon, als sie ihn aus dem zufriedenen Dösen, in das er schon versinken wollte, mit einem energischen Klopfen der Schenkel weckt. Das Klopfen war vielleicht ein wenig zu energisch und sozusagen ein Alarmsignal, Marke: „Jetzt oder nie!“ oder „Und wenn die Welt voll Teufel wär!“
„Teufel, Teufel“, sagt auch prompt der Reiter neben Rose, der bisher hinter ihr ritt, so daß sie ihn nicht sehen konnte. „Sie sind doch hoffentlich lebensversichert?“
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