Martin Burckhardt
Ein Abgesang der Postmoderne
Einleitung
Virale Gesellschaft
Stadien der Eskalation
Geistesbeben
Im freien Fall
Der Aufprall
Ich bin ein anderer
Nach dem Schock
Abgesang
Anmerkungen
Video-Material
Man muss kein Prophet sein, um vorherzusagen, dass die Coronakrise sich tief ins kollektive Gedächtnis eingraben wird. Aber da die Schockwellen andauern, fällt es schwer, die Bedeutung dessen zu ermessen, was uns gerade widerfährt. Bleibt nur die dunkle Gewissheit: Die Party ist vorbei, die schöne Unbeschwertheit des Anything goes ist Geschichte. Verlassene Tanzflächen, geschlossene Reisebüros, Restaurants, deren Kellner aussehen wie Statisten einer verlorenen Zeit; die Erinnerung, wie es war, als die Stadt in den Dornröschenschlaf fiel. Da war eine ohrenbetäubende Stille – als hätte jemand auf dem Höhepunkt eines Konzerts den Stecker gezogen. Vielleicht war es auch keine Stille, sondern ein grauer Schleier, der sich als Mehltau über die Dinge gelegt hat. Menschenverlassene Flughäfen, Kaufhäuser, die nicht mehr verkaufen, Theater, die einfach zu spielen aufgehört haben. Gewiss, es gibt wieder Leben ringsum, aber die Erstarrung ist nicht verschwunden, sondern hat sich in eine inwendige Lähmung verwandelt, ein Störgeräusch, das nicht mehr aus dem Kopf gehen will. Und zugleich stellt sich, gleich einer sich entwickelnden Fotografie, das Bewusstsein ein: Der Ausbruch der Pandemie war eine Zeitenwende, die radikaler ist als alles, was uns die Krisen der letzten Jahrzehnte beschert haben.
Wenn im nachfolgenden Essay die Viralität mit einem Abgesang auf die Postmoderne verknüpft wird, steckt dahinter ein Gedanke, der weit über die Gegenwartsschau hinausreicht: die Behauptung, dass die Pandemie uns aus der Komfortzone des postmodernen Phantasmas entlässt, oder genauer: in eine Abgründigkeit stürzen lässt. In ein Bild übersetzt, könnte man dies mit der Bewegung der Zeichentrickfilmfigur vergleichen, die über ein Kliff hinweg in die blanke Luft vorangestürmt ist – aber erst in dem Augenblick, da sie die Tiefe unter sich realisiert, tatsächlich stürzt. Wenn Wittgenstein einmal gesagt hat: die Welt ist, was der Fall ist, lässt sich der Sturz als Zusammenstoß mit einer unerhellten, unabweisbaren Realität deuten. Und mit dieser Kollision einher geht die Einsicht, dass die vertrauten Sprach- und Gesellschaftsspiele uns nicht mehr zu tragen vermögen. Von daher stellt sich die Frage: Wo genau ist dieser Punkt, der Klippenrand, zu lokalisieren?
Schon ein erster, kursorischer Rückblick liefert eine Bildsequenz, die auf ein Rätsel hinweist. Denn alle Schocks der letzten Jahrzehnte verraten, so unterschiedlich sie sein mögen, eine virale Struktur. Beginnen wir mit dem Mauerfall, den man in geschichtsphilosophischer Abstraktion als Ende der Geschichte gedeutet hat; als konkretes historisches Ereignis war er jedoch nichts weiter als die verrutschte Formulierung eines Politbüromitglieds, ein Superspreader -Ereignis, das, infolge einer Masseninfektion, eine für undurchdringlich gehaltene Gedankenmauer durchbrach. Auch die Dotcom-Hysterie, die unter dem Schlagwort der New Economy die Börsenkurse in schwindelerregende Höhen hinaufkatapultierte, war ein Geschehen, bei dem eine kollektive Erregung sich Ausdruck verschaffte; das Gleiche gilt, wenngleich in sinistrer Form, für die Twin Towers, bei denen weniger eine konkrete Architektur als vielmehr das Symbol einer Weltmacht in sich zusammenfiel, ein weltweites Medienereignis, das der Komponist Stockhausen zum »größten Kunstwerk« erklärte, »das es je gegeben hat«; schließlich die Finanzkrise, bei der das fiktive Kapital der Credit Default Swaps einen übermächtigen Reiz ausübte, der zwar vielen Beteiligten als eine Form des Schwindels bewusst war, dem sie sich aber, solange »die Musik spielte«, allzu willig ergaben. In die Reihe dieser Großereignisse gestellt, erscheint die Coronakrise wie eine logische Fortsetzung – nur dass man es hier nicht mit einer Form der symbolischen Ansteckung, einer medialen Hysterisierungsspirale, sondern einer wirklichen Todesdrohung zu schaffen bekommt. Man könnte einwenden, dass genau diese biologische Seite den entscheidenden Unterschied macht. Jedoch ist der Rekurs auf die Naturkatastrophe, die »höhere Gewalt«, nur bedingt angebracht. Denn so sicher, wie das Virus nicht dem Bereich der menschlichen Artefakte angehört, hat es sich nur deswegen zu einer Pandemie auswachsen können, weil es – als blinder Passagier – den globalen Warenketten und Reisebewegungen gefolgt ist. Von daher reiht sich auch die Pandemie in die lange, hier bloß umrissene Liste 1viraler Gesellschaftsumbrüche ein. In dieses Kontinuum gestellt, verändert sich der Blick auf das Geschehen. Plötzlich nämlich werden Bezüge und Strukturen sichtbar, die im Handbuch des Epidemiologen nicht vorgesehen sind. Manches davon ist mit den Händen zu greifen. Es mag kaum überraschen, dass eine Gesellschaft, die sich ein Going Viral! auf die Fahne geschrieben hat, es ihrerseits mit einem viralen Geschehen zu schaffen bekommt. Diese Doppelbelichtung nimmt bereits eine Deutung vorweg: Sie zeigt die Pandemie als den bösen Zwilling der Netzwerkgesellschaft, welche seit den frühen 70er Jahren die Welt nachhaltig verändert und in eine politische Ökonomie hineingeführt hat, die eindeutig virale Züge aufweist. Ein skeptischer Zeitgenosse könnte einwenden: Wie kann ein Zeichen eine virale Logik entbinden? Wäre schon ein Computervirus Antwort genug, wird der Versuch, das Triebwerk dieser Ordnung dingfest zu machen, mit einer Antwort belohnt. Hier stößt man auf jene abgründige Formel, 2die den Beginn der Boole’schen Logik markiert und die man als Urform digitaler Viralität überhaupt lesen kann: x = x n. Was aber hat diese Formel mit der Postmoderne zu schaffen? Und inwiefern kann sie als der Augenblick gelten, da wir den Boden unter den Füßen verloren haben? Wieso ist hier überhaupt von einem Phantasma die Rede? War nicht die Postmoderne der Augenblick, da man das Denken den großen Erzählungen entwand, eine intellektuelle Ernüchterungsgeste mithin? Zweifellos. Indes schützt die gelungene Dekonstruktion eines Phantasmas nicht davor, einem neuerlichen Phantasma aufzusitzen. Paradoxerweise ist dies die Dekonstruktion selbst, genauer: die ihr zugrunde liegende Annahme, dass man es nicht mehr mit Realitäten, sondern mit gefügigen Zeichen, Sprachspielen und Fabeln zu tun hat. Weil die Zeichen gezähmt, Realitätsverweigerung salonfähig gemacht wurde, konnte die Hydra des intellektuellen Hochmuts und der Selbstüberhebung ihr Haupt erheben. Nicht zufällig entwirft Deleuze, im Anschluss an Nietzsche, das »souveräne und gesetzgebende Individuum, das sich durch die Macht über sich selbst, über das Schicksal, über das Gesetz auszeichnet«. 3Damit wird ein absolutes Selbstbestimmungsrecht supponiert, das im Widerspruch zum sehr viel bescheideneren Realitätsprinzip steht: der Tatsache, dass die Netzwerkgesellschaft ihren Mitgliedern ein bestimmtes Gesellschaftsspiel aufzwingt. Dass das Anything goes mit einem Netzwerkprotokoll, einer symbolischen, viralen Ordnung, bezahlt werden muss – die Verleugnung dieses Sachverhalts hat die postmoderne Selbstüberhebung in eine träge Komfortzone zurücksinken lassen. 4War die Dekonstruktion in der heroischen Phase der Postmoderne ein Moment der intellektuellen Befreiung, ist heutzutage eine Vulgarisierung des postmodernen Reflexes zu beobachten, bei der am Ende nicht mehr der Gedanke, sondern allein der narzisstische Mehrwert auf dem Spiel steht. Wo das
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