In den Straßen hing der typische Londoner Nebel. Der Himmel war bedeckt und sternenlos. Irgendwo in der Nachbarschaft bellte ein Hund. Ein Scheppern erklang. Dann war es wieder still.
Edmond hatte sein Kleingeld am Abend genau gezählt und einsehen müssen, dass es nicht genug war, um sich ein wenig mehr Komfort und Sicherheit zu kaufen. Das Geld auf der Bank würde er für solch eine Angelegenheit nicht anrühren. Schließlich hatte er trotz allem eine Familie zu versorgen. Also schloss er den Mantel, packte seine Tasche fest und lief in schnellem Schritt die Straße entlang Richtung Hafen.
Er achtete darauf, in der Mitte der Gassen zu laufen, solange er keinem Karren ausweichen musste. In einigen Hauseingängen und Hinterhöfen standen Gestalten herum oder kauerten am Boden. Streuner und Landstreicher. Aber keiner schien sich sonderlich für ihn zu interessieren.
Noch schliefen die Stadt und die Heimatlosen, die zu ihren Füßen hausten und sich von Abfällen und hingeworfenen Almosen ernährten.
Das Geräusch von Schuhsohlen auf dem Straßenpflaster ließ seine Gedanken abrupt ins Hier und Jetzt zurückkehren. Schweiß brach ihm aus. Angst kroch ihm das Rückgrat hinauf und ließ Gänsehaut auf seinen Armen wachsen. Er wagte nicht, sich umzudrehen oder anzuhalten. Stattdessen beschleunigte er seinen Gang, lief beinahe. Etwas, das zu einer unschönen Angewohnheit wurde.
Doch auch die verfolgenden Schritte beschleunigten. Dissonant diesmal. Waren es zwei Personen? Oder drei? Gehetzt blickte Edmond nach vorn. Die reglosen Gestalten in den Hauseingängen schienen gespannt den Atem anzuhalten und ihn zu beobachten. Eine Ratte huschte direkt vor ihm über die Straße. Das Fell ölig-glänzend grau.
Edmonds Gedanken überschlugen sich. Wie konnte er sich schützen?
Kaum zu Ende gedacht, mischte sich hinter ihm das Klappern von beschlagenen Pferdehufen in die Geräuschkulisse. Zügel schnalzten. Die Tiere steuerten im schnellen Trab auf ihn zu. Und endlich wagte Edmond es, sich umzudrehen – gerade noch rechtzeitig, um mit einem Satz zur Seite zu springen und der Kutsche auszuweichen! Das heitere Lachen und Kichern aus dem Inneren ließ auf Amouröses schließen. Also kein Anschlag. Alles nur Einbildung. Oder?
Edmond blieb stehen und lauschte. Das Pferdegetrappel entfernte sich rasant und war bereits kaum mehr zu hören. Stattdessen waren da wieder Schritte, die fest auf das Pflaster traten, wie bei jemandem, der es eilig hatte und zielstrebig auf etwas zusteuerte.
Und diesmal sah er sie. Zwei dunkel gekleidete Männer mit Dreispitz und Mantel, die links an der Häuserwand entlang auf ihn zukamen. Edmond dreht sich panisch um und lief los. Bis zum Hafen war es nicht mehr weit. Vielleicht würden sie ihn verschonen, wenn es zu viele Zuschauer gab. Tagelöhner, die die Schiffe beluden, oder Fischer, die für den ersten Fang des Tages ihr Boot fertigmachten.
Doch bevor er die Anlegestellen erreichen konnte, tauchte vor ihm eine vermummte Gestalt in grauem Umhang und Kapuze auf. Sie hatten ihn in der Zange!
Ohne nachzudenken, schlug sich Edmond in eine schmale Seitengasse, drängte sich durch die noch geschlossenen und verbarrikadierten Stände der Straßenhändler und setzte seinen Weg in einem kopflosen Zickzackkurs fort, bis er wie durch ein Wunder unbescholten doch noch weiter östlich die Kaimauer erreichte.
Während er lief, wich die Schwärze der Nacht allmählich einem schmutzigen Blaugrau. Der Nebel zog sich übers Wasser zurück. Die Schatten wurden kleiner. Öllampen tauchten die Kisten und Säcke, die an den Entladestegen warteten, in vereinzelte Kegel aus Licht. Je näher Edmond den Schiffen kam, umso mehr Menschen waren unterwegs.
Matrosen hingen in den Wanten der Schiffe, kümmerten sich um die Ladung oder schrubbten die Decks. Das Schwappen der Wellen an die Piers, die ersten Schreie der Möwen und die Kommandos der Offiziere übertönten Edmonds Panik.
Keuchend und nassgeschwitzt hielt er inne und wagte erneut einen Blick zurück. Niemand war zu sehen. Keine Verfolger. Am Bootssteg saß ein Bootsmann auf einem Fass. Edmond nannte seinen Namen und erklärte ihm, dass er eine Passage gekauft habe, und der Mann winkte ihn schweigend durch.
Edmond atmete durch. Endlich in Sicherheit. Mit der freien Hand griff er das Haltetau, um über den Steg an Bord zu gehen. Auf dem Schiff roch es nach nassem Holz, Seife und Salz. Der Wind wehte in einer kräftigen Brise von Nordost und ließ die englische Flagge auf der Spitze des Frontmastes flattern.
Der Quartiermeister wartete oben, nahm das verabredete Geld in Empfang und deutete ihm mit einem Fingerzeig den Weg zu seiner Kabine.
Edmond hatte es nicht eilig, dorthin zu kommen. Er fühlte jetzt, da er in Sicherheit war, die Aufregung, die einen beschlich, wenn man zu einer Reise aufbrach. Dieser Kitzel des Abenteuers. Die Möglichkeit, etwas Neues zu entdecken und seinen Horizont zu erweitern.
Ein Lächeln stahl sich auf seine Lippen, trotz des ganzen Verdrusses. Er würde zu Isaac fahren! An einen Ort, wo sie für sich sein konnten. Sich geben konnten, wie sie wirklich waren, ohne auf die Augen und Ohren anderer achten zu müssen.
Die Sonne blinzelte über den Horizont, als die Santa Cruise ablegte. Ein langer Pfiff ertönte, der Steuermann bellte den Matrosen Befehle zu und sofort griffen die eingespielten Rädchen ineinander. Zwei junge Burschen stemmten sich gegen die Holme der großen Winde, um den Anker einzuholen. Die Seemänner zogen den Steg ein und lösten die Leinen, während der Rest in den Wanten hing, bereit, die Segel zu setzen.
Unter den aktuellen Windverhältnissen würde die Überfahrt höchstens drei Tage dauern. Genug Zeit also, um rechtzeitig vor Ort bei Isaac zu sein, um gemeinsam die Sonnenfinsternis zumindest am Rande noch miterleben zu können.
Der elegante Schoner glitt die Themse entlang und nahm gemächlich Fahrt auf. Edmond blickte ein letztes Mal zurück zur Anlegestelle. Die anderen Schiffe wurden weiterhin emsig beladen. Erste Straßenhändler boten ihre Waren an. Und mitten in diesem Gewusel sah Edmond erneut die verhüllte Gestalt stehen. Eine schmale graue Silhouette mit Kapuze, die dort an jenem Dock reglos verharrte, von dem aus sie abgelegt hatten. Wie ein Versprechen. Eine stumme Botschaft. Ich sehe dich. Du entkommst mir nicht. Wir sind dir auf den Fersen.
Edmond fröstelte. Schlagartig sank seine gute Reiselaune. Für die nächsten drei Tage war er mit gut drei Dutzend Menschen auf diesem Schiff eingesperrt. Hier würde es kein Entkommen geben. Keinen sicheren Ort. Außer vielleicht seine Kabine. Und auch das war nicht gewiss.
Comper
Endlich hatte sich der Eingang zu Nimues Schloss offenbart. David ging an der Seite seiner Schwester langsam zwischen den hoch aufgewölbten Wasserwänden entlang auf die Mitte des Sees zu. Nach einigen Metern wandelte sich der schlichte Sandboden in massiven Fels, der sich nach ein paar weiteren Schritten als eine in den Stein gehauene Treppe entpuppte.
Stufe um Stufe führt sie der Weg tiefer hinab in den See. Und obwohl David vorher ohne Probleme von einem Ufer zum gegenüberliegenden hatte blicken können, schien in dieser Falte der Realität Entfernung in anderen Maßeinheiten zu existieren. Oder war es vielmehr die Zeit, die sich nicht mehr greifen ließ?
»Wie lange gehen wir diesen Weg schon?«, fragte er schließlich Rian, als immer noch kein Ende in Sicht kommen wollte.
Seine Schwester schien die Sache ganz nach ihrer Art deutlich lockerer zu nehmen. Während sie gemütlich zwischen den Wassermassen, die sich nun über ihnen zu einem Dach wölben, entlang spazierte, blickte sie flüchtig über die Schulter zurück. »Ich schätze, es dauert, solange es eben dauert, bis wir ankommen.«
David verdrehte die Augen. »Was für eine hehre Weisheit. Es könnte genauso gut ein Trick sein. Eine Endlosschleife, in der sich ungebetene Gäste zu Tode laufen.«
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