Jonas mochte den Gruppenraum nicht. Der war klein und eng, und man konnte das Fenster nicht öffnen. Auf der Fensterbank wimmelte es von toten Fliegen, und Jonas bekam immer Kopfschmerzen, wenn er länger als zehn Minuten dort sein musste. Es wäre etwas anderes gewesen, wenn Marius Jonas um Rat gebeten hätte. Aber das Gegenteil passierte. Marius wollte reden. Ehe er anfangen konnte, musste er jedoch etwas in seinem Rucksack finden. Marius hatte einen kleinen roten O’Neill-Sack, den er über der Schulter trug.
»Trendig und elendig«, sagte Jonas. »Das ist gefährlich für den Rücken. Weißt du, was du dir zulegen solltest? Einen Diplomatenkoffer.«
»Okay«, sagte Marius und zog ein Blatt Papier ganz unten aus dem Sack hervor. Jonas dachte, vielleicht habe Marius ihn nicht einmal gehört. »Es gibt ein Lager.«
Ein Pornolager.
»Jetzt im Sommer, meine ich.«
Voller Damen oben ohne.
»Ich hab im Internet darüber gelesen.«
Und da hängen die Pervos ab.
»Da gibt es jede Menge Aktivitäten, die dir gefallen könnten. Angeln und Bergsteigen und ...«
Miss-Wet-T-Shirt-Wahl.
»Schau doch mal.«
Marius legte das Blatt vor Jonas auf den Tisch. Sommerlager für schüler mit lernschwierigkeiten. Schlicht und ergreifend. Wir wollen hier doch nichts unter den Teppich kehren. Hier nennen wir einen Spaten einen Spaten und einen Idioten einen Idioten.
Es gab ein Bild von einem Mädchen mit Schwimmweste. Und Zahnklammer. Es war unmöglich zu sehen, ob sie Brüste hatte oder nicht. Die Schwimmweste war im Weg.
»Es ist nicht sicher, ob es so wird, wie du es dir wünschst, wenn sie nach Hause kommt, Jonas. Das verstehst du doch sicher? Es wäre vielleicht nicht schlecht, noch einen Plan B zu haben. Überleg dir das mal.«
Überlegdirdasmalüberlegdirdasmalüberlegdirdasmal. Überleg dir das mal: Marius ist ein Pervo. Marius geht ins Internet und sucht nach Damen oben ohne mit Lernschwierigkeiten und schiefen Zähnen.
»Danke für das Angebot«, sagte Jonas.
Er blickte aus dem Fenster. Es war gutes Wetter, aber das Fenster im Gruppenraum war so schmutzig, dass der Himmel grau wurde.
Das ist nicht gelogen. Das ist nicht übertrieben. Jonas Nilsen ist zehn Jahre alt, als er anfängt, sich für seine Mutter schön zu machen. Als er einen Anzug anzieht. Sich Gel in die Haare schmiert. Von Festen erzählt, die er nie besucht hat. Einen Tag wird er nie vergessen. Eine Episode aus dem Besuchsraum.
Die Mutter fuchtelt nervös mit ihren von großen Sommersprossen übersäten Händen. Ihre Haare als Pferdeschwanz. Struppig. Und der Vater kippelt mit dem Stuhl, schaut in die Luft und kann nur sagen:
»Schönes Wetter heute.«
Und gleich darauf:
»Gestern hab ich einen Auerhahn gesehen.«
Jemand muss noch mehr sagen. Jemand muss über etwas anderes reden als über Wetter und Vögel.
Jonas Nilsen ist zehn Jahre alt. Er ist jemand.
Er beugt sich über den Tisch vor und schaut der Mutter voll in die Augen.
»Rat mal, wer gestern in den Schülerrat gewählt worden ist.«
»Du?«
»Ja.«
»Ist das wahr?«
»Jepp.«
»Bist du denn wirklich so ein guter Redner, Jonas?«
Jonas sieht den Vater an. Aber der Vater starrt noch immer vor sich hin. Es ist nicht sicher, ob er Jonas gehört hat. Es ist nicht sicher, ob er weiß, dass das nicht stimmt.
Jonas redet weiter. Er nimmt Anlauf. Er fühlt sich gut in Form. Er fühlt, dass das hier etwas ist, worin er gut werden kann.
»Und weißt du, was ich als Erstes ändern möchte?«
»Was denn?«
»Es gibt Mädchen auf der Schule, die lassen Bilder von anderen kreisen, ohne zu fragen, ob denen das recht ist.«
Als Jonas und sein Vater gehen, lächelt die Mutter. Verschränkt die Hände im Nacken, und Jonas sieht ihre Achselhöhlen. Sie hat große Schweißflecken in dem roten Stoff. So was passiert, wenn man nervös ist. Sie ist jetzt nicht mehr nervös.
»Schön, dich zu sehen, Jonas«, sagt sie.
»Ja.«
Diesmal flucht er nicht. Diesmal legt er die Arme um den Hals der Mutter und lässt sich von ihr drücken. Er ist ein großer Junge. Er ist einer, der lügt, um denen zu helfen, die er liebt. Voller Verantwortung. Verantwortungsbewusst. Im Anzug. Macht sich gern fein. Das ist kein Unsinn. Das ist wichtig.
Wenn der Vater Freunden und Bekannten nicht gerade irgendwelche Gefallen tat, dann bastelte er an dem Auto herum, das in der Garage stand. Es war ein alter Cadillac aus den USA. Grau. Der Vater hatte den Motor auseinandergenommen. Schraube um Schraube, Mutter um Mutter, Metallplättchen und Zahnräder. Es war ein Puzzle und Jonas’ Vater wusste genau, an welchen Platz alle Stücke gehörten.
Jonas folgte dem Vater und Persson hinaus in den Garten. Jonas’ Vater öffnete die Garagentür.
»Verflixt«, sagte Persson.
Er hielt Snoopie am Halsband fest. Snoopie bleckte die Zähne, als Jonas aus dem Haus kam.
»Mhm«, sagte der Vater und nickte.
»Sie macht sich?«
Der Vater hatte die Hände in die Seiten gestemmt und den Oberkörper vorgekippt. Er nickte noch eifriger. Persson ließ Snoopie los und verschränkte die Arme vor der Brust.
Sie fing an, zwischen den Bäumen herumzulaufen.
Jonas dachte, sie suche sicher etwas zum Beißen.
»Einen Schritt nach dem anderen«, sagte der Vater. »Das braucht Zeit. Aber ich nähere mich.«
»Das ist es auch wert«, sagte Persson.
Es dauerte lange. Jonas’ Vater nannte den Wagen Martha Stewheart. Einmal hatte er gewollt, dass Jonas sich unter das Auto legte und nach oben schaute. Er meinte, Jonas würde Martha Stewheart schon gern mögen, wenn er sie erst kennengelernt hätte. Aber Jonas wollte nicht. Jetzt legte Persson die Hand auf die Motorhaube.
»Warm und glatt«, sagte er. »Glaubst du, es gefällt ihr, wenn ich sie anfasse? Was glaubst du, Jonas? Glaubst du, die Damen mögen das?«
Jonas’ Vater lachte und spuckte etwas auf den Boden. Kautabak.
»Ja, verdammt, Persson.«
Das war widerlich. Ekelhaft. Er hatte davon einen schwarzen Streifen über dem Kinn und der Priem gab ihm einen ganz besonderen Geruch. Jonas’ Vater stank.
Sie brachten Persson mit dem Pick-up nach Hause und kauften im Supermarkt ein.
Jonas ging geradewegs zum Fischtresen. Wendy arbeitete dort jeden zweiten Mittwoch und Samstag. Sie trug eine Uniform: weites weißes Hemd mit aufgekrempelten Ärmeln, kleiner weißer Hut, unter den sie ihre dunkle Mähne stopfte. Manchmal hatte sie Blut auf dem Bauch.
Jonas schaute gern vorbei. Er kaufte sich einen Fischpudding. Zwölf Kronen und fünfzig Öre. Seine Mittel erlaubten ihm das. Wendy gab ihm den Fischpudding in einer durchsichtigen Plastikdose mit einer Gabel.
Manchmal war Wendy freundlich, aber an diesem Tag war sie gestresst. Sie verschloss die Dose mit dem Preisschild.
»Iss erst, wenn du bezahlt hast.«
»Hältst du mich für blöd?«
»Vergiss es bloß nicht.«
Viele wollten Fisch kaufen. Hinter Jonas Nilsen bildete sich eine kleine Schlange. Wendy wollte ihn los sein, aber er blieb stehen.
»Willst du sonst noch was?«
Er schüttelte den Kopf.
»Dann sehen wir uns morgen, ja?«
Manchmal lächelte Wendy Jonas an. Manchmal redeten sie über Marius oder über Leute aus der Klasse. Manchmal sprachen sie über Dinge im Fernsehen. Zu wem sie bei Superstar hielten. Wendy war sonst nicht so sauer wie an diesem Tag. Vielleicht war etwas passiert.
Und plötzlich wusste Jonas, was los war. Das Bild. Das Bild von Wendy, das er ins Klo geworfen hatte. Vielleicht hatte er ja nicht richtig abgezogen. Er hatte nicht nachgesehen. Man muss immer nachsehen. Manchmal kommen Dinge wieder nach oben. Vielleicht hatte jemand das Bild gefunden. Vielleicht hatte sie davon gehört. Vielleicht wusste Wendy, was er getan hatte.
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