Eine Doppelstunde Deutsch zu haben, ist schon mal die eine Sache. Eine Doppelstunde Deutsch zu haben, wenn man zu wenig geschlafen hat, noch eine andere. Vor allem, wenn es draußen gar nicht richtig hell werden will, weil die ganze Welt in einen fiesen Nieselregen gehüllt ist. Und wenn die Ullrich dann auch noch über Gedichte redet, genauer gesagt über eins mit dem Titel »Zirkuskind«, von einer Frau, die Rose Ausländer heißt und schon tot ist, und wenn das Gedicht dann gar nicht von einem echten Zirkuskind handelt, sondern irgendwie von der Frau selbst und ihrer Fantasie.
Gedichte. Damit kann ich einfach nichts anfangen. Geschichten sind ja okay, da gibt es echt ganz spannende. Früher, als Mama mir noch welche vorgelesen hat, fand ich das immer gut, besonders, wenn darin spezielle Technologien eine Rolle spielten oder Schiffsreisen oder das Weltall. Manchmal lese ich noch immer Bücher, wenn auch nicht unbedingt dieselben wie im Deutschunterricht. Nur, worauf ich gerade Lust hab. Aber Gedichte, die mag ich nicht. Die sind irgendwie so schwurbelig, vor allem, wenn sie keine feste Form haben, sondern einfach nur aus merkwürdigen Sätzen bestehen. Im schlimmsten Fall sind es nicht mal richtige Sätze, jedenfalls keine logischen, sondern Bilder , wie die Ullrich es nennt. Dann weiß man erst recht nicht, was die sollen. Wenn ich Gedichte schreiben würde, würden sie sich wenigstens reimen, und die Zeilen müssten jeweils eine bestimmte Anzahl von Silben haben, damit alles aufgeht, aber natürlich schreibe ich keine, und ich hab auch keine Lust, über welche zu reden.
»Malte, du siehst skeptisch aus«, spricht die Ullrich mich jetzt auch noch an, und sofort guckt die ganze Klasse zu meinem Platz rüber. »Welche Einwände hast du gegen das ›Zirkuskind‹?«
»Ach, gar keine«, murmle ich, aber jetzt beißt die Ullrich sich fest.
»Na, sag schon!«
Ich zucke die Achseln. »Weiß nicht. Ich kapier das einfach nicht so richtig.«
»Dann lies das Gedicht doch bitte noch mal laut.«
Auch das mag ich nicht. Laut vorlesen. Aber jetzt muss ich wohl oder übel ran. Also nehme ich das Blatt, auf dem in der Mitte der Text winzig klein fotokopiert ist, und überfliege sicherheitshalber vorab die Zeilen.
» Ich bin ein Zirkuskind «, fange ich dann an.
Die Ullrich lächelt mir zu.
»spiele mit Einfällen
Bälle auf – ab
Ich geh auf dem Seil
über die Arena
der Erde
reite auf einem Flügelpferd
über ein Mohnfeld
wo der Traum wächst
Werfe dir Traumbälle zu
Fang sie auf«
»Gut«, sagt die Ullrich. » Traumbälle . Was ist denn damit wohl gemeint?« Sie guckt immer noch mich an.
Wieder zucke ich die Achseln. »Dass sich jemand was vorstellen soll?«
»Aha!«, sagt sie, als hätte ich ihr wer weiß was offenbart. »Wer soll sich denn was vorstellen?«
Ich blicke wieder auf die mikroskopischen Zeilen. »Die Person, der die Traumbälle zugespielt werden.«
»Genau. Und wer ist das?«
Mein Mund wird trocken. Ich versuche vergeblich zu schlucken. Halte mich mit den Augen am Zettel fest.
Werfe dir Traumbälle zu .
Weiterlesen.
Fang sie auf .
»Wer soll sich was vorstellen und von Einfällen berühren lassen?«, hakt die Ullrich nach.
Ich sammle Spucke im Mund zusammen. Viel ist es nicht. »Der Leser?«, frage ich leise. »Den Rose Ausländer anspricht? In ihren Gedichten?«
»Genau«, sagt sie glücklich. »Ein Gedicht ist immer eine Art Zwiegespräch.« Und nun lässt sie mich endlich in Ruhe.
Neben mir stößt Mats mich mit dem Ellbogen an. Grinst und flüstert: »Voll der Deutschprofi heute.«
Statt zu antworten, gucke ich mit schweren Augen raus in das Februargrau. Kurz versuche ich, mir ein Flügelpferd vorzustellen, das über ein Feld galoppiert, auf dem ein Traum wächst. Aber es funktioniert nicht. Da sind nur der Schulhof mit den Tischtennisplatten, der verhangene Himmel und ein Stück vom Seitentrakt mit den Fachräumen, wo wir Physik und Bio und Matheclub haben.
Ich bin eben keiner, der Traumbälle auffängt. Beziehungsweise was mit Gedichten anfangen kann.
Als die Pause beginnt, nieselt es noch immer, und so gut wie die ganze Schule quetscht sich in die Cafeteria. Normalerweise kann man in so einem Gedränge direkt neben jemandem stehen und sieht ihn trotzdem nicht, weil sich immer ein anderer an einem vorbei zur Essensschlange drängelt oder einen wegschiebt oder mit seinem breiten Rücken anschubst, aber Josefine entdecke ich sofort. Durch alle Leute hindurch.
Sie sitzt an einem der Tische und hat den Kopf gelangweilt in die Hände gestützt, als ginge sie der ganze Trubel nichts an. Und das Unheimliche ist: Sie sieht mich auch. Als gäbe es da einen Blicktunnel zwischen uns. Und weil ich gleich merke, das geht jetzt nicht, dass ich einfach weggucke und mich mit Mats und Philipp unterhalte, nicht, wenn sie mich so anschaut, es scheint sie überhaupt nicht zu interessieren, ob es mir peinlich ist oder nicht, sie hier zu treffen. Also nicke ich ihr ergeben zu, sage zu Mats und Philipp: »Komme gleich wieder« und kämpfe mich zu ihr durch.
»Hey!«, begrüßt sie mich. »Was geht?«
»Nichts Besonderes, und bei dir?«
Statt zu antworten, nimmt sie den Kopf aus den Händen, setzt sich ein bisschen auf, mustert mich. »Müde?«
»Ich konnte gestern nicht einschlafen. Und wir hatten gerade Deutsch … Gedichte!«
»Cool«, sagt sie, und es dauert einen Moment, bis mir klar wird, dass sie damit nicht meinen schlechten Schlaf meint.
»Was? Gedichte?«
»Findeste nicht?«
Ich beiße von meinem Käsebrot ab, überlege, ob sie es vielleicht ironisch meint.
»Jedenfalls besser als Sport«, fügt sie hinzu. »Das hab ich jetzt gleich, und es dürfte unter Umständen noch bescheuerter werden als Bio mit dieser scheiß Genetik.«
Nun bin ich einigermaßen verwundert. »Ich dachte, du machst gerne Sport.«
»Ja, aber doch nicht in der Schule!« Es klingt, als hätte ich das eigentlich wissen müssen.
»Ich find Schulsport auch nicht so toll«, beeile ich mich zu sagen, und dabei muss ich plötzlich an Lale und ihren Volleyball denken und frage mich, ob sie im Verein spielt oder AG-mäßig in der IGS.
Josefine unterbricht meine Gedanken. »Aber wenn ich’s mir recht überlege, geh ich eh nicht hin«, sagt sie.
Als ich das höre, stolpert mein Herz. »Wohin gehst du nicht?«
»Zu Sport natürlich.« Mit einem entschiedenen Ruck steht sie vom Tisch auf. »Gibt Wichtigeres im Leben.«
»Aber du kannst noch nicht …!«
»Was kann ich nicht?«, fragt sie eine Spur zu laut.
Ein paar Leute drehen sich nach uns um, und na klar, Kolja ist auch dabei. Der taucht jetzt wohl immer haargenau dort auf, wo Josefine ist. Vielleicht hat er uns sogar schon länger zugehört, ohne auf sich aufmerksam zu machen.
»Hallo«, sagt er, als unsere Blicke sich treffen. Er sagt es deutlich genug, dass auch Josefine es hören müsste.
Doch die achtet genauso wenig auf ihn wie auf alle anderen in der Cafeteria. Sie schnappt sich nur ihren Rucksack, zieht die Kapuze ihres Hoodies über und wuschelt mir durch die Haare. »Tschüss, Kleiner«, sagt sie, und ehe ich noch was erwidern kann, schiebt sie sich durch die Massen, die ihr erstaunlich gehorsam Platz machen, davon.
»Was hatte die denn?«, fragt Kolja und guckt ihr verdattert nach, so lange noch was von ihr zu sehen ist.
»Keine Ahnung.« Ich denke daran, wie sie zuerst dasaß, den Kopf schwer in die Hände gestützt. »Schlechte Laune?«
Читать дальше